Auch sie hielt er sorgsam versteckt.
Marcus betrat das ans Schlafzimmer anschließende Bad und starrte in den Spiegel. Er betrachtete den wild wuchernden Bart, der langsam drohte, sein Gesicht zu verschlingen. Er lehnte sich nach vorne und musterte seine mehr grauen als blauen Augen. Dann wandte er sein Gesicht der Sonne zu. »Ich bin nicht müde.«
Die dunklen Ringe unter seinen Augen straften ihn allerdings Lügen.
Er ignorierte Arizonas wachen Blick, öffnete die Hausapotheke und nahm eine Tube Hämorridensalbe heraus – ein Trick, den er von seiner Frau Jane gelernt hatte. Bevor er sie getötet hatte.
Nur ein kleiner Tupfer unter die Augen, nicht lächeln oder die Stirn runzeln, und in Sekundenschnelle hatten sich die Furchen in seinem Gesicht geglättet. Dann noch etwas von Janes »Tipp-Ex«, wie sie ihre Abdeckcreme genannt hatte, und schon waren die Augenringe komplett weg.
»Nun bin ich getarnt«, sagte er zu seinem Spiegelbild.
Eine Erinnerung an Jane stieg nun plötzlich in ihm hoch.
Es war der Abend vor neunzehn Jahren, beim Bankett der BioWare Preisverleihungen. Jane saß in einem rosa Morgenmantel mit dem Lockenstab vor der Spiegelkommode im Badezimmer, während Marcus mit seiner Krawatte kämpfte.
Er fluchte. »Nie kriege ich diesen Knoten hin.«
»Lass mich mal versuchen.« Bevor er protestieren konnte, hatte Jane einen Stuhl hinter ihn geschoben und war darauf geklettert. Sie fing seinen Blick im Spiegel über dem Waschbecken ein und griff dann über seine Schultern. Ihre Augen wanderten zu dem verdrehten Klumpen, der eigentlich ein Windsorknoten hatte werden sollen. »Du musst nicht immer gleich so ungeduldig sein.«
»Und du solltest nicht auf Stühlen herumklettern.«
»Ist doch nichts dabei, Marcus.«
»Du bist schwanger, das ist dabei.«
»Aha. Du findest du mich wohl fett, was?«
Jane hatte noch nie so schön ausgesehen wie jetzt, wo sie im fünften Monat mit Ryan schwanger war.
»Ich würde dich nie fett finden«, gab er zurück.
Sie legte den Kopf schief und zog eine Augenbraue hoch. »Nie? Und wie wirst du das in vier Monaten sehen, wenn ich die Treppe zum Schlafzimmer nicht mehr hochkomme?«
»Dann trage ich dich eben.«
»Und was, wenn ich meine Füße nicht mehr sehen kann und mir nicht mehr die Zehennägel lackieren kann?«
»Dann mach ich das für dich.«
»Und was, wenn …«
Er drehte den Kopf und küsste sie. Da gab sie endlich Ruhe.
Lachend schubste sie ihn weg, zog kurz an der Krawatte und schob dann den Knoten gekonnt an die richtige Stelle.
Er stöhnte. »Warum kann ich das nur nicht?«
»Weil du mich dafür hast. Und jetzt hör auf, mich abzulenken. Ich muss noch mein Kleid anziehen und mich schminken.«
Marcus saß auf der Bettkante und wartete. Jane schaffte es immer, dass sich das Warten lohnte, und auch an diesem Abend enttäuschte sie ihn nicht. Als sie aus dem Badezimmer kam, wirkte sie in ihrem Designerkleid aus der West Edmonton Mall wie eine Erotikgöttin. Der kleine Babybauch war kaum zu sehen.
»Wie sehe ich aus?«, fragte sie und befühlte nervös die neuen goldblonden Haarsträhnchen.
»Wahnsinnig sexy.«
Langsam drehte sie sich im Kreis, um das elegante schwarze Kleid mit dem tiefen Rückenausschnitt richtig zur Geltung kommen zu lassen. Sie warf einen Blick über ihre mit Glitter gepuderte Schulter. »Also gefällt dir mein neues Kleid?«
»Mir würde es noch besser gefallen, wenn es sich auf dem Boden befinden würde«, sagte er leise.
Minuten später lagen sie außer Atem und lachend wie Teenager auf den zerknitterten Bettlaken. Sex mit Jane war immer so aufregend, jung und vor allem spaßig.
Nachdem sie sich wieder angezogen hatte, ging Jane ins Badezimmer zurück, um ihre Frisur und ihr Make-up zu richten. »Ich bin jetzt getarnt«, sagte sie, als sie wieder raus kam. »Lass uns gehen.«
»Yes, Ma'am.«
Er hörte sie wispern: »Sechs plus acht plus zwei …«
»Machst du schon wieder dieses Zahlenlehrezeugs?«, fragte er sie grinsend.
Als Jane gemerkt hatte, dass sie schwanger war, war sie zu einem Esoterikkongress gegangen, wo ihr ein Numerologist etwas über das Addieren von Daten beigebracht hatte. Seitdem rechnete sie die Zahlen immer wieder durch, wenn ein wichtiger Termin anstand, um herauszufinden, ob es ein guter Tag sein würde oder nicht. Sie hatte Marcus sogar dazu gebracht, Lottozettel an Tagen mit einer Drei im Datum zu kaufen, denn das bedeutete laut ihr, dass sich Geld anbahnte. Bisher hatten sie jedoch noch nichts gewonnen, aber er machte es ihr zuliebe trotzdem.
»Was ist heute?«
Sie lächelte. »Eine Sieben.«
»Aha, die glücksbringende Sieben.« Er sah sie mit hochgezogener Augenbraue an. »Das heißt wohl, dass ich Glück haben werde?«
»Hattest du doch wohl gerade schon, Mister.«
Sie waren zu spät beim Preisverleihungsbankett erschienen, womit sie sich nicht gerade beliebt gemacht hatten. Jane war als Ehrengast geladen gewesen, da sie für ihr neuestes Videospiel für BioWare den Preis als ›beste Programmiererin‹ erhalten hatte. Als Jane auf die Bühne trat, um ihren Preis entgegenzunehmen, hätte Marcus sich nicht vorstellen können, jemals stolzer auf sie zu sein. Bis die Nacht kam, in der Ryan geboren wurde.
Ryan … mein Sohn, den ich getötet habe!
Marcus schüttelte den Kopf und zwang die Erinnerungen zurück in die Dunkelheit, wo sie hingehörten. Er nahm eine Dose Rasierschaum in die Hand und starrte auf das Etikett, ohne es wirklich zu sehen.
Rasieren oder nicht rasieren? Das war hier die Frage.
»Ach was, heute nicht«, brummte er.
Seit Wochen hatte er sich schon nicht mehr rasiert. Ein Haarschnitt war auch längst überfällig. Zum Glück waren sie auf seiner Arbeitsstelle nicht allzu streng, was die äußere Erscheinung anging. Aber sein Vorgesetzter würde vermutlich trotzdem einen Kommentar dazu abgeben.
Der Weckton an seiner Armbanduhr piepste nun.
Ihm blieben also noch zwanzig Minuten, um die Notrufzentrale zu erreichen. Dann konnte er sich wieder hinter der Anonymität verstecken, nur eine gesichtslose Stimme am Telefon zu sein.
***
Yellowhead County Emergency Services in Edson, Alberta, beherbergte im zweiten Stock des geräumigen Gebäudes in der 1st Avenue eine kleine, aber kompetente Notrufzentrale. Im gleichen Stockwerk befanden sich auch vier Räume, die als Lehrzimmer für Erstehilfe, Wiederbelebungs- und Sanitäterkurse vermietet wurden. Die Notrufzentrale hatte eine Vollzeitbesetzung von vier Telefonvermittlern mit zwei Vorgesetzten – eine Tagschicht und eine Nachtschicht. Außerdem gab es eine Handvoll gutausgebildeter, aber schlecht bezahlter Zusatzkräfte und drei regelmäßige ehrenamtliche Helfer.
Als Marcus das Gebäude betrat, erwartete ihn Leonardo Lombardo bereits am Fahrstuhl. Doch Leo wirkte alles andere als glücklich, ihn zu sehen.
»Du siehst aus, als wäre gerade dein Hund gestorben«, meinte Marcus.
»Ich habe doch gar keinen.«
»Wie wär's dann mit einer warmen, fröhlichen Begrüßung? Oder hat die Mafia dich angeheuert, mich aus dem Weg zu räumen?«
Leo, ein durchschnittlich großer Mann Ende vierzig, trug am Bauch um die dreißig Pfund zu viel mit sich herum. Sein dunkles italienisches Aussehen ließ ihn auf Fremde geheimnisvoll und gefährlich wirken. Im Ort tratschte man, dass Leo ein Amerikaner mit Verbindungen zur Mafia war. Aber Marcus wusste ganz genau, wer die Gerüchte in Umlauf gebracht hatte. Leo hatte einen wirklich kranken Sinn für Humor.
Doch jetzt grinste sein Freund nicht.
»Du musst wirklich mal sehen, dass du Schlaf nachholst.«
Marcus zuckte die Achseln und bestieg den Fahrstuhl. »Schlaf wird total überbewertet.«
»Du siehst scheiße aus.«
»Danke.«
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