Wozu sollte Sport gut sein? Hatte es irgendeine Bedeutung, dass wir bei den Damen keine einzige Medaille holten? Wurde das Leben leichter, weil Carol Heiss aus den USA die Goldmedaille im Eiskunstlauf bekam?
Kupper’n stellte auf zehntausend Metern den Weltrekord auf. 15.46.6. Der schwedische Kommentator Sven Låftman rief begeistert: »Kupper’ns fabelhafter Rekord wird vermutlich in alle Ewigkeit gelten. Jedenfalls wird er in den kommenden fünfzig Jahren wohl kaum bedroht werden.«
»Vielleicht stimmt das«, sagte ein Junge aus der Klasse.
Aber schon drei Jahre später übertraf Jonny Nilsson Kupper’ns Rekord in Karuizawa um über dreizehn Sekunden. Damals dachte ich zum ersten Mal, dass Sport niemals Macht über mich haben sollte und dass ich niemals in den Zeitungen die Sportkommentare lesen würde.
Das widerliche Gefühl der Leere, wenn es vorüber war. Die traurige Stimmung gegen Ende einer Eislaufmeisterschaft, wenn der Sieger längst gesiegt hatte und alle Verlierer um die zweitschlechteste Zeit über zehntausend Meter kämpften. Das tat mir in der Seele weh.
Um uns zu trösten, ging Vater mit uns hinaus in die Sternennacht. Sein Vertrauen zum Universum war unendlich. Er zeigte auf die Sterne. Der Triumph der Natur über die Torheit der Menschen.
Deshalb hatte er solche Angst vor der Atombombe. Konnte sie die Natur herausfordern mit ihren ungeahnten Kräften? Konnte sie die Zivilisation auslöschen? China hatte bereits einen Wasserstoffbombentest angekündigt. Nicht nur Vater hatte jetzt Angst. In allen Zeitungen gab es Interviews mit Menschen, die sich zu Protestaktionen versammelt hatten. Helge Seip sagte in der Sendung En verden (Eine Welt): »Die Atomversuche in der Sahara waren ein unheilvolles Vorzeichen. Immer mehr Nationen können jetzt Atombomben herstellen. Deshalb müssen wir gegen diese Entwicklung protestieren. Es ist lebensgefährlich, das nicht zu tun.«
Tormod und ich standen mäuschenstill da und starrten gemeinsam mit Vater zu den Sternen hoch.
Mutter saß im Wohnzimmer und retuschierte Familienporträts für Fotograf Wickman.
Irgendwer musste ja schließlich Geld verdienen.
7
Der fast neununddreißig Jahre alte Caryl Chessman erwacht in seiner Todeszelle, Zelle Nr. 2455 im San Quentin State Prison, diesem gewaltigen Gefängnis auf dem Nordufer der San Francisco Bay in Kalilfornien, das sich über ein fast zwei Quadratkilometer großes Gelände erstreckt.
Es ist der 2. Mai 1960.
Chessman ist nicht allein. Mehr als dreitausend Häftlinge sind mit ihm eingesperrt, und an die zweitausend Menschen haben ihre Arbeit innerhalb der Gefängnismauern.
Zu Hause engagiert sich Vater schon seit vielen Jahren für Chessman. Wenige Dinge empören ihn mehr als die Todesstrafe. Er kann es nicht fassen, dass eine zivilisierte Nation wie die USA diese makabre Handlung noch immer nicht eingestellt hat. Er sprach über Chessman, als wir einige Monate zuvor bei Grini auf unserer letzten Skitour waren. Ich erinnere mich an den flammenden Sonnenuntergang, daran, wie die Welt dunkler wurde, während Vater von dem Gefangenen erzählte, der auf der anderen Seite des Erdballs in der Todeszelle saß.
Chessman weiß, dass seine Hinrichtung an diesem Morgen auf 10.00 Uhr anberaumt ist. Wenn er überhaupt geschlafen hat, dann nur wenige Stunden. Das Schlafbedürfnis ist nicht ganz so stark, wenn man weiß, dass man am nächsten Morgen vielleicht sterben wird.
Aber Chessman hat die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben. Er ist jetzt zum neunten Mal der »Dead man walking«. Er wurde schon acht Mal von seiner Zelle in den Raum gleich neben der Gaskammer verlegt. Oft kam die Begnadigung erst wenige Stunden, bevor die Hinrichtung stattfinden sollte, eine Hinrichtung durch Zyanid in der berüchtigten Gaskammer. Jetzt weiß er, dass sich die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf San Quentin richtet. Autoren wie Aldous Huxley, Norman Mailer und Ray Bradbury engagieren sich für ihn und haben an den kalifornischen Gouverneur Pat Brown appelliert. Sogar Eleanor Roosevelt hat inständig um Begnadigung gebeten. Chessman hat niemanden getötet. Er hat niemals gestanden, wofür er verurteilt worden ist: dass er vor zwölf Jahren Mary Alice Meza und Regina Johnson zur Fellatio gezwungen hat. Die zweiundzwanzig Jahre alte Johnson wurde von ihrem Wagen 22 Fuß zum Ort des Verbrechers geschleift. Die siebzehn Jahre alte Meza wurde noch weiter gezerrt, und laut Paragraph 209 im kalifornischen Strafgesetzbuch, das sich an das Little Lindbergh Law anlehnt, galt dies als Entführung, und darauf stand die Todesstrafe. Chessman wurde nicht wegen der eigentlichen sexuellen Handlung verurteilt, denn die war nicht mit Todesstrafe belegt, sondern weil er die beiden Frauen weiter als 20 Fuß von ihren Autos weggezwungen hatte.
Entführung.
Chessman stritt von Anfang an ab, mit diesen Dingen etwas zu tun zu haben. Er lehnte das Angebot eines Verteidigers ab. Das war eine schicksalhafte Entscheidung. Aber er war so sicher, dass die Jury seine Unschuld erkennen würde, dass er das Opfer einer Verwechslung war, dass er gefoltert worden war, dass die Anklagebehörden ihn mit Verbrechen im Rotlichtbezirk in Verbindung bringen wollten. Keine der Frauen konnte ihn als den Täter identifizieren. Sie erzählten von einem Mann, der sie zuerst vaginal hatte vergewaltigen wollen, der sie nach einigen Verhandlungen dann aber zu Fellatio zwang, die ohne körperliche Verletzungen, aber um einen hohen psychischen Preis ausgeführt wurde. Chessman behauptete während der Vernehmungen, den wahren Täter zu kennen, dessen Identität jedoch nicht verraten zu wollen. Der Prozess entwickelte sich zu einer juristischen Farce, als der Stenograph starb, bevor auch nur ein Drittel der Gerichtsprotokolle ausgeschrieben worden waren. Diese Arbeit wurde dann von einem stark alkoholisierten Verwandten des Staatsanwaltes übernommen, ohne dass Chessman zugestimmt hätte. Jury und Gericht gegenüber konnte dieser Verwandte für seine Arbeit kaum Rede und Antwort stehen. Chessman wurde von mehreren Seiten juristische Hilfe angeboten, er jedoch sagte »meine Seele ist nicht zu verkaufen«. Er bezichtigte den Bundesstaat Kalifornien eines konspirativen Angriffs mit dem Ziel, irgendeinen Kriminellen aus San Franciscos Rotlichtbezirk als Schuldigen dastehen zu lassen, weil die Polizei diesen Bezirk nicht in den Griff bekam. Er gab zu, ein Verbrecher zu sein, der mehrere Überfälle ausgeführt hatte, er sei jedoch nicht der »Red Light-Bandit«, der Frauen zu sexuellen Handlungen zwang.
Dass er allerdings Polizei und Staatsanwaltschaft angriff und anklagte, wie es niemand zuvor getan hatte, brachte ihm die strengstmögliche Strafe ein: Die Gaskammer im San Quentin State Prison. Strafgrund: Kidnapping.
Das Urteil war im Juli 1948 gefallen. Chessman saß seit elf Jahren und zehn Monaten in der Todeszelle. So viel Zeit hatte noch kein zum Tode Verurteilter in der Death Row zugebracht.
Chessman nutzte diese Zeit, um mehrere Bücher zu schreiben. Er war ein ungewöhnlich guter Autor. Die gelbe Taschenbuchausgabe von Todeszelle 2455 stand schon seit vielen Jahren im Bücherregal meiner Eltern, zusammen mit Mein Kampf ums Leben. Ich hatte beide heimlich gelesen, obwohl Vater mir das verboten hatte. Aber sowie ich gelernt hatte, mehrere Sätze auf einmal zu begreifen, konnte ich mit großen Augen lesen: »Es ist hart, dem Tod ins Auge zu blicken. Der Tod ist ein seltsames Gefühl, etwas, das deinen Unterleib zusammenpresst, das in dich hineinkriecht und dich lähmt. Der Tod ist zu groß, um begriffen zu werden.« Chessman schrieb über Big Red, der in Zelle 2439 gesessen hatte, unter der Anklage, einen anderen Häftling totgeschlagen zu haben, nachdem er verhaftet worden war, weil er seine Frau bedroht hatte. Er war überzeugt, dass sie fremdging, dass sie daran schuld sei, dass ihre einzige Tochter in ein Kinderheim gesteckt worden war. Um 10.02 Uhr am 30. Oktober 1952 saß er auf dem Stuhl in der Gaskammer. Ein Wächter klopfte ihm auf den Rücken und sagte: »Viel Glück.« Chessman beschreibt sein Gesicht als eine ausdruckslose Maske. Der Gefängnisdirektor gibt dem Henker das Zeichen. Der Henker zieht an den Hebeln. Big Red kann das leise Plop-plop der tödlichen Zyanidkapseln hören, die in den Säurebehälter am Fußende des Stuhls fallen. Die chemische Reaktion setzt sofort ein: Das Blausäure-Gas steigt hoch und hüllt ihn in einen unsichtbaren Nebel. Big Red schnuppert in der Luft herum. Seine Nasenflügel zittern beim Kontakt mit dem widerlich süßen Pfirsichgeruch. Er schluckt eine Handvoll dieser tödlichen Dämpfe. In seinem Kopf dreht sich alles. Alles ist nur noch Nebel. Sein Bewusstsein ist schon weit in die ewige Finsternis gewandert. Er reißt verzweifelt an den Riemen. Seine Augen erstarren. Sie können nichts mehr erkennen. Der Kopf kippt grotesk vornüber. Sein Absturz in den schwarzen bodenlosen Abgrund hat begonnen. Er braucht zehn Minuten, um zu sterben. Sein Körper windet sich in Krämpfen. Einmal. Zweimal. Dreimal. Sein Herz rast, pocht wie ein Dampfhammer. Dann schlägt es langsamer, langsamer und langsamer – bis es ganz aufhört. Chessman schreibt über die Zeugen, die danach in den strahlend sonnigen Spätsommernachmittag hinauswandeln. Er schreibt über die Apparate, die noch immer dröhnen, die riesigen Pumpvorrichtungen, die das Giftgas durch ein langes Rohr aus der Kammer ziehen und es hoch über dem Gefängnisgebäude in die Luft entlassen. Die kleine schelmische Meeresbrise trägt einige Moleküle des Gases in den Todesgang zu den anderen zum Tode Verurteilten. Noch länger als eine Stunde, nachdem er für tot erklärt worden ist, sitzt Big Red leblos auf dem Stuhl. Dann werden Riemen und Fesseln gelöst und der Hingerichtete wird in die Leichenhalle des Gefängnisses gebracht.
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