»Ja, ich habe sie umgestoßen. Auf dem Schulhof. Ich tu das nie wieder.«
»Bitte um Entschuldigung«, sagte der Lehrer. »Entschuldigung«, sagte er.
Sie deutete ein Nicken an und schlug die Augen nieder.
»Gut«, sagte der Lehrer. Er war zufrieden. Er setzte den Unterricht fort. Er hörte nicht, dass die Stille weiterging. Sie wuchs und wuchs. Wurde gewaltig. Dann fing sie an zu zittern.
Die Stille zwischen ihm und ihr.
Er glaubte, alle könnten das hören, noch viele Jahre danach. Aber er bekam sie nie.
5
Er hat lesen gelernt, aber er kann nicht schreiben. Er liest Aftenposten , wenn er aus der Schule nach Hause kommt. Dann liest er Dagbladet , wenn der Vater nachmittags mit der Straßenbahn kommt. Er steht am Fenster und sieht zu, wie sein schöner Vater hinkend den Hang von der Haltestelle hochkommt und in den Melumvei einbiegt. Der Vater hat seine braune Tasche bei sich. Darin hat er Graubrot in einer Papiertüte. Und er hat Dagbladet unter dem Arm. Die wogende Bewegung, elegant und unbeholfen zugleich, als sehe man im Kino ein Kamel. Aber wann sieht man im Kino Kamele? In 80 Tagen um die Welt hatte am Zweiten Weihnachtstag im Colosseum-Kino Premiere. Tante Svanhild hat versprochen, dass er und sein Bruder den Film am kommenden Sonntag sehen werden. Er hat den Verdacht, dass sie in David Niven verliebt ist, der die Hauptrolle spielt. Er hat Bilder von David Niven in der Zeitung gesehen. Ja, David Niven passt zu Tante Svanhild. Sie haben sogar eine gewisse Ähnlichkeit. Die verfeinerten Gesichter, auch wenn Tante Svanhild eine ziemlich große Nase hat.
Wann hat er entdeckt, dass die Zeitungen das große Fenster zur Welt sind? Die vielen Bilder. Die Texte, die er liest, obwohl er oft etwas Falsches liest. Darüber wird gelacht, aber niemand ist boshaft. Er weiß, dass er in eine liebe Familie hineingeboren worden ist. Und dennoch hat er diese Angst, wenn die Stimmen seiner Eltern lauter werden. Das ist das schlimmste Geräusch von allen.
Jetzt weiß er, dass Einar Gerhardsen Ministerpräsident ist und Halvard Lange Außenminister. Er weiß die Namen sämtlicher Minister.
Aber er weiß sie nicht mehr, als er sich hinsetzt, um diese Geschichte zu schreiben. Vierundfünfzig Jahre später. Um im Leben allein sein zu können, wird er Kenntnisse brauchen. Er ist gern ein Betrachter. Er hat gesehen, wie gern die Eltern Bücher lesen, wie sie über Literatur sprechen, als sei das Gelesene wirklich. Wenn er Zeitung liest, ist alles wichtig.
Am wichtigsten ist, was in der gefährlichen Zeitung steht. Die heißt Orientering . Sie ist nicht wie die anderen. Es gibt sie nicht jeden Tag. Sie bringt die Nachbarn dazu, den Vater vielsagend anzusehen. Dann begreift er, dass auch der Vater nicht wie alle anderen ist. Das hat er schon im vergangenen Herbst bei den Gemeindewahlen begriffen, als er mit einem Pappschild auf der Brust dastehen durfte. Darauf standen etliche Namen, und keiner hatte etwas mit einer der großen Parteien zu tun. Es war nämlich eine freie Wählerliste, auf der die Schauspielerin Liv Dommersnes ganz weit oben stand. Er versuchte, alles aufzuschnappen, was die Erwachsenen untereinander redeten. Er merkte sich Wörter wie Protest und Alternative. Orientering war eine Alternative. In dieser Zeitschrift wurden die Aktivitäten der Regierung kritisch betrachtet. »Der dritte Standpunkt«, über den sein Vater so oft sprach. Weder rechte Sozialdemokraten noch Kommunisten, weder Moskau noch Washington, sondern eine unabhängige sozialistische Position.
Der Vater war Sozialist.
Aber das sagte er niemandem. Das wäre dumm gewesen. Sozialisten, das klang wie etwas, das man beim Metzger kaufte. »Vier Frikadellen und drei Sozialisten, bitte.«
Stattdessen nutzte er die Zeit zum Zuhören. Für den Versuch, zu verstehen. Und er begriff, dass der große Krieg noch nicht lange zurücklag. Den hatten seine Eltern beide erlebt. Die Deutschen hatten sogar auf die Mutter und die Großmutter geschossen, als die beiden über ein Feld bei Fredrikstad gelaufen waren. Und der Vater hätte durchaus umkommen können, wenn die geplante Sprengung der Brücke über den Sarpefoss nach Plan verlaufen wäre. Viele Jahre später erfuhr er, dass sein Onkel, der liebe Onkel Odd, der am Borgenhaugen Herrenkleidung verkaufte, einer der geheimen Widerstandsgruppen angehört hatte. Erst lange nach seinem Tod ging den anderen auf, was er während des Krieges geleistet hatte. Er hatte kein Wort gesagt. Er hatte versucht, sich unsichtbar zu machen. Ja, wichtig war doch gerade die Unsichtbarkeit!
Das Stichwort war nun NATO. Oder OTAN, wie es komischerweise auf Französisch hieß.
Er fand das witzig und dachte, Französisch müsse eine Sprache sein, bei der Amerikanisch rückwärts gesprochen werde. Sogar sein Vater, der in diesen Jahren so ernst war, musste lachen.
Der Vater war gegen die NATO. Die North Atlantic Treaty Organization. Ein Verteidigungsbündnis gegen den Kommunismus. Eine entsetzliche Vorstellung für die Kapitalisten: Gleichheit und Sicherheit für alle. Solche Gedanken dachte der Vater. Deshalb hatte er Orientering abonniert. Deshalb nahm er seine Söhne mit zur Kommunalwahl. Deshalb vergaß er, dass sie noch Kinder waren. In der Schule hörten sie Märchen über Prinzen und Prinzessinnen. Aber zu Hause war vor allem von Präsidenten und Staatsoberhäuptern die Rede. Sie wussten schon allerlei über die Präsidentschaftswahlen in den USA, wo Nixon und Kennedy wohl von Republikanern und Demokraten als Kandidaten aufgestellt werden würden. Sie wussten, dass es etwas gab, das Hiroshima und Nagasaki hieß, dass Atomwaffen das Schrecklichste waren, das überhaupt existierte. Sie wussten, dass der große Krieg vorüber war. Dennoch befanden sie sich in einem Kalten Krieg. Er konnte diesen Krieg nicht sehen, aber gerade jetzt, mitten im Winter, konnte er ihn spüren. Er fragte sich, ob es auch einen heißen Krieg gab. Könnte das der Krieg zwischen den Eltern sein? Auf diese Frage hatte ihm der Vater keine Antwort gegeben. Der kümmerte sich um den Kalten Krieg. Deshalb beteiligte sich der Vater in regelmäßigen Abständen an Protestmärschen durch die Osloer Innenstadt. Der Vater hatte zudem einen heimlichen Freund in Oslo, ja, sogar mitten in einem Wohnblock. Von außen konnte man nichts sehen. Aber wenn man durch den Torweg kam, sah man einen Hinterhof, und darin stand ein altes Haus. Ein rotes Holzhaus, dem sämtliche Aussicht verbaut worden war. Dort, auf dem Dachboden, wohnte ein Mann.
Er hieß Ulf.
Der das hier schreibt, liebte Ulf.
Ulfs kurzsichtige Freundlichkeit. Seine englische Freundin, die so ein seltsames Norwegisch sprach. Die altmodischen Kleider. Das Kneippbrot auf dem Tisch, zusammen mit Marmelade, Butter, der Milchflasche und den ungeheuren Stapeln aus Manuskripten, Büchern, Zeitungen und Kampfschriften. Und die Abziehmaschine! Selbst, als die Kinder- und Jugendredaktion des NRK anfing, für ihre Sendungen verrückte und zerstreute Professoren zu erfinden, konnten sie Ulfs Chaos nicht übertreffen. Weder früher noch später hat er je etwas Ähnliches gesehen.
Es gefiel der Mutter nicht, dass sie Ulf besuchten. Sie mochte Unordnung nicht, und sie mochte nichts, das gefährlich werden könnte. Deshalb kam sie niemals mit zu Ulf. Sie kam auch nie mit zu den obdachlosen Kriegsmatrosen in Mærradalen. Ulf und die Kriegsmatrosen konnten der Grund für einen Streit sein, aber zum Glück passierte das nur selten.
Er war jedenfalls froh darüber, dass er mitkommen durfte.
Erst zu den Kriegsmatrosen mit den vielen Katzenjungen und dem schwarzgebrannten Fusel, der so seltsam roch in dem überwucherten Tal zwischen Huseby und dem Radiumhospital. Der pure Urwald. Pflanzen und Bäume, die aussahen wie Spinnen und Schlangen. Der Geruch nach Harz und etwas Süßlichem, Undefinierbarem. Spinnweben zwischen den Baumstämmen. Dorthin gingen sie, ungefähr jeden zweiten Samstagnachmittag. Der Vater hatte Stullen aus Knäckebrot und Ziegenkäse geschmiert. Er klatschte extra viel Butter darauf, denn er meinte, die Männer brauchten mehr Fett auf den Rippen.
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