Deborah Levy - Heim schwimmen

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Es ist heiß. Sehr heiß. Sie sind aus London gekommen, um in einem Haus bei Nizza Ferien zu machen: Das Ehepaar Jozef und Isabel Jacobs, er Schriftsteller, sie Kriegsberichterstatterin; die beiden teilen schon lange nichts mehr, außer der Zeit, die sie miteinander verbracht haben. Ihre vierzehnjährige Tochter Nina, die wenig von ihren Eltern hält, aber umso mehr in pubertäre Gefühlsschwankungen verstrickt ist. Schließlich ein befreundetes Ehepaar, dessen Laden gerade pleitegeht. Beste Voraussetzungen für geruhsame Ferien.
Tatsächlich bricht schon bald das Unheil herein. Ein nackter Frauenkörper treibt im Schwimmbad. Aber diese junge Frau namens Kitty Finch ist nicht tot. Schwankend zwischen verletzlich und exaltiert, nistet sich die selbsternannte Botanikerin mit den grüngelackten Nägeln in der Villa ein und mischt die ohnehin komplizierte Lage auf. Und sie wünscht sich nichts mehr, als dass der Dichter sich mit ihr und ihrem Gedicht «Heim schwimmen» beschäftigt.
Deborah Levy gelingt es, in 160 Seiten und sieben erzählten Tagen ein beunruhigendes und doch vertrautes Familienpanorama zu zeichnen – unbehauste Personen, unfähig zu einem gemeinsamen Zuhause. Ein wahrer Albtraum, wäre das Buch nicht voller witziger Episoden und komischer Figuren.

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Aus dem Englischen von Richard Barth

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel Swimming Home bei And Other Stories in High Wycombe, die deutsche Erstausgabe 2013 als Quartbuch bei Wagenbach.

E-Book-Ausgabe 2021

© 2011 Deborah Levy

© 2013, 2021 für die deutsche Ausgabe:

Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung: Julie August unter Verwendung der Fotografe »Aya Revers Blue« aus der Serie »Aya Pool«, 2020 © Corinna Rosteck. Reihenkonzept von Rainer Groothuis.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN 9783803141255

Auch in gedruckter Form erhältlich: ISBN 978 3 8031 2837 9.

www.wagenbach.de

Für Sadie und Leila, meine Lieben auf ewig

»Jeden Morgen erzählen in allen Familien Männer, Frauen und Kinder, WENN SIE NICHTS BESSERES ZU TUN HABEN, einander ihre Träume. Wir alle sind unseren Träumen ausgeliefert und wir sind es uns schuldig, ihrer Macht auch im Wachzustand Tribut zu zollen.«

La Révolution surréaliste, Nr. 1, Dezember 1924

FRANZÖSISCHE SEEALPEN

Juli 1994

Eine Gebirgsstraße. Mitternacht .

Als Kitty Finch das Lenkrad losließ und zu ihm sagte, dass sie ihn liebe, da wusste er nicht mehr, ob sie sich mit ihm unterhielt oder ihm drohte. Das Seidenkleid rutschte ihr von den Schultern, als sie sich über das Lenkrad beugte. Ein Kaninchen lief über die Straße, und das Auto scherte aus. »Warum packst du nicht deinen Rucksack und schaust dir die Mohnfelder in Pakistan an, wie du es dir immer gewünscht hast?«, hörte er sich sagen.

»Ja«, sagte sie.

Es roch nach Benzin. Ihre Hände flatterten über dem Lenkrad wie die Möwen, die sie vor zwei Stunden von ihrem Zimmer im Hotel Negresco aus gezählt hatten.

Sie bat ihn, sein Fenster zu öffnen, damit sie hören könne, wie die Insekten im Wald einander riefen. Er kurbelte das Fenster herunter und forderte sie sanft auf, sich auf die Straße zu konzentrieren.

»Ja«, sagte sie, den Blick wieder auf die Straße gerichtet. Und dann erzählte sie ihm, dass die Nächte an der Côte d’Azur immer so schön »weich« seien. Die Tage seien hart und röchen nach Geld.

Er streckte den Kopf aus dem Fenster und spürte, wie die kalte Bergluft auf seinen Lippen brannte. In diesem Wald, der jetzt eine Straße war, hatten einst urzeitliche Menschen gelebt. Sie wussten, dass die Vergangenheit in Felsen und Bäumen zu Hause war, und sie wussten, dass ihr Begehren sie unbeholfen, verrückt, rätselhaft und verkorkst werden ließ.

Mit Kitty Finch so intim zu sein war eine Lust, eine Qual, ein Schock und ein Experiment gewesen, vor allem jedoch ein Fehler. Er bat sie noch einmal, ihn bitte, bitte, wohlbehalten nach Hause zu seiner Frau und seiner Tochter zu bringen.

»Ja«, sagte sie. »Das Leben ist nur lebenswert, weil wir hoffen, dass es irgendwann besser wird und dass wir am Ende alle wohlbehalten heimkehren.«

SAMSTAG

Wild lebend

Der Swimmingpool im Garten der Ferienvilla glich weniger einem dieser tristen blauen Pools, wie man sie aus Urlaubsprospekten kennt, als einem Teich. Einem Teich in Form eines Rechtecks, den eine italienische Steinmetzfamilie aus Antibes aus dem Stein gehauen hatte. Der Körper trieb am tiefen Ende, wo das Wasser im Schatten einer Reihe von Pinien kühl blieb.

»Ist es ein Bär?« Joe Jacobs deutete vage Richtung Wasser. Er spürte, wie sich die Sonne in das Hemd einbrannte, das sein indischer Schneider für ihn aus einem Ballen Rohseide angefertigt hatte. Sein Rücken brannte wie Feuer. In dieser Juli-Hitzewelle schmolzen selbst die Straßen.

Seine Tochter, Nina Jacobs, vierzehn Jahre alt, stand in ihrem neuen, mit Kirschen bedruckten Bikini am Poolrand und warf ihrer Mutter einen ängstlichen Blick zu. Isabel Jacobs öffnete gerade den Reißverschluss ihrer Jeans, als wolle sie ins Wasser springen. Gleichzeitig sah Nina, wie Mitchell und Laura, Freunde der Familie, mit denen sie einen Sommer lang diese Villa teilten, ihre Teetassen abstellten und zu den Steinstufen gingen, die am seichten Ende in den Pool führten. Laura, eine schlanke, eins neunzig große Riesin, schleuderte ihre Sandalen von sich und watete bis zu den Knien ins Wasser. Eine abgewetzte gelbe Luftmatratze stieß gegen den moosbewachsenen Beckenrand und trieb die Bienen auseinander, die dort in verschiedenen Stadien des Todeskampfs schwammen.

»Was glaubst du, was es ist, Isabel?«

Von dort, wo sie stand, sah Nina, dass es eine Frau war, die da nackt unter der Wasseroberfläche trieb. Sie schwamm auf dem Bauch, die Arme von sich gestreckt wie ein Seestern, und ihre langen Haare umspielten ihren Körper wie Seegras.

»Jozef glaubt, es sei ein Bär«, antwortete Isabel im distanzierten Ton einer Kriegskorrespondentin.

»Wenn es ein Bär ist, werde ich ihn erschießen müssen.« Mitchell hatte vor kurzem auf dem Flohmarkt in Nizza zwei alte persische Pistolen gekauft und war ständig auf der Suche nach etwas, worauf er schießen konnte.

Gestern hatten sie alle über einen Zeitungsartikel diskutiert, in dem von einer 94 Kilogramm schweren Bärin berichtet wurde, die in Los Angeles aus den Bergen herabgestiegen war und ein Bad im Pool eines Hollywoodschauspielers genommen hatte. Dem Tierschutzverein von Los Angeles zufolge war die Bärin läufig. Der Schauspieler verständigte die Polizei. Die Bärin wurde mit einem Narkosegewehr betäubt und dann in den nahen Bergen ausgesetzt. Joe Jacobs hatte laut darüber nachgedacht, wie es sich anfühlen mochte, wenn man betäubt wurde und dann heimstolpern musste. Hatte das Tier jemals nach Hause gefunden? Hatte es in seiner Benommenheit den Weg vergessen und zu halluzinieren angefangen? War die Bärin aufgrund des »chemischen Käfigs«, der im Betäubungspfeil enthaltenen Barbiturate, vielleicht ganz wacklig auf den Beinen gewesen? Hatte das Betäubungsmittel der Bärin am Ende geholfen, mit dem Stress des Lebens zurechtzukommen und ihre Aufgewühltheit zu bezähmen, sodass sie nun die Behörden bekniete, ihr kleine Beutetiere hinzuwerfen, in die man Barbiturate gespritzt hatte? Joe hatte seine Tirade erst beendet, als Mitchell ihm auf die Zehen trat. Aus Mitchells Sicht war es sehr, sehr schwer, den Dichterarsch, den seine Leser als JHJ kannten (und den mit Ausnahme seiner Frau alle anderen Joe nannten), dazu zu bewegen, sein blödes Maul zu halten.

Nina schaute zu, wie ihre Mutter einen Kopfsprung in das trübgrüne Wasser machte und zu der Frau hinschwamm. Wahrscheinlich rettete ihre Mutter ständig irgendwelche Leute, die mit aufgedunsenem Körper in einem Fluss trieben. Wenn sie in einer Nachrichtensendung auftrat, gingen angeblich die Einschaltquoten nach oben. Ihre Mutter verschwand nach Nordirland, in den Libanon oder nach Kuwait, und dann kam sie zurück, als wäre sie nur mal eben Milch holen gewesen. Wer auch immer die Frau im Pool war – gleich würde Isabel Jacobs sie am Knöchel packen. Plötzlich spritzte das Wasser so heftig, dass Nina zu ihrem Vater rannte, der seine Hand auf ihre sonnenverbrannte Schulter legte, woraufhin sie laut aufschrie. Als aus dem Wasser mit weit aufgerissenem, nach Luft ringendem Mund ein Kopf auftauchte, glaubte sie eine Schrecksekunde lang, das Brüllen einer Bärin zu hören.

Eine Frau mit tropfenden, hüftlangen Haaren stieg aus dem Pool und rannte zu einem der Plastikliegestühle. Sie sah aus wie Anfang zwanzig, aber das war schwer zu sagen, weil sie auf der Suche nach ihrem Kleid hektisch von einem Stuhl zum anderen hüpfte. Das Kleid war aufs Pflaster gefallen, aber keiner kam ihr zu Hilfe, weil alle ihren nackten Körper anstarrten. Nina war von der glühenden Hitze ganz benommen. Der bittersüße Geruch von Lavendel stieg ihr in die Nase, schnürte ihr die Luft ab, und der keuchende Atem der Frau vermischte sich mit dem Summen der Bienen in den welkenden Blumen. Sie fragte sich, ob sie einen Sonnenstich hatte, denn ihr war, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. Verschwommen sah sie, dass die Frau für jemanden, der so dünn war, überraschend volle und runde Brüste hatte. Ihre langen Oberschenkel waren mit den Gelenken ihrer hervorstehenden Hüften verbunden wie die Beine der Puppen, die sie als Kind hin und her gedreht hatte. Das Einzige, was an dieser Frau echt wirkte, war das Dreieck blonder Schamhaare, das in der Sonne glitzerte. Nina verschränkte bei ihrem Anblick die Arme vor der Brust und machte einen Buckel. Am liebsten hätte sie ihren eigenen Körper unsichtbar gemacht.

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