Während sie sich bemühte, den Mann zum Trinken zu bewegen, musste sie unweigerlich die schrecklichen Ereignisse der vergangenen Tage Revue passieren lassen. Sie hatte sich auf der Arbeit eingefunden – einem IT-Betrieb – und sich vor dem Wahnsinn eingesperrt, um ihren Geist beschäftigt zu halten. Dann, nachdem die grässlichen Schreie verklungen und anscheinend alle gestorben waren, hatte sie sich zu Fuß auf den Nachhauseweg gemacht. Sie war die Straße hinuntergegangen, in der sie gewohnt hatte, als die Toten sich erhoben. Entsetzt hatte Jordan beobachtet, wie sich die Leichen überall in der Umgebung regten. Nackt waren sie gewesen, dreckig und schwerverletzt. Ein Mann hatte sich wenige Yards vor ihr aufgerafft und ihr den Rücken zugekehrt. Während er davonging, hatte sie ein paar Fuß seines Enddarms aus dem Anus hängen sehen wie einen dicken, roten Schwanz.
Einige Nachbarn waren draußen gewesen und schafften Leichen von ihrem Rasen. Sie zählten zu den ersten Opfern. Die Toten ergriffen sie und begannen, sie zu beißen. Sie schaute zu, wie einem Mann ein Stück Fleisch von einem Toten aus der Wade gerissen wurde, der neben ihm auf der Erde lag.
Bei diesem Anblick hatte sich ihr Magen aufgebäumt und ihr Herz heftig geklopft. Der Gebissene stieß einen grässlichen Schrei aus. Sie wollte davonlaufen, blieb aber wie angewurzelt stehen. Dann sah sie mit an, wie eine alte Dame verzweifelt versuchte, in ihr Haus zurückzulaufen. Ein dicker, nackter Mann packte sie von hinten und zwang sie zu Boden. Er biss ihr ein Stück aus der Schulter, und sie kreischte auf. Diese Laute waren das Schlimmste. Zu hören, wie jemand gefressen wurde, kam Jordan fast schlimmer vor, als dabei zuzusehen.
Die Frau wurde am Boden festgehalten, als eine weitere Leiche, ein Teenager mit langem Haar, in seiner Hast, an das frische Fleisch zu gelangen, auf den Bauch fiel. Jordan kam sich hilflos vor, während sie das sah. Der knabenhafte Tote biss in ihren Schenkel und riss ihr die Kleider vom Leib, ehe er seine Zähne noch einmal in ihr vergrub. Die Frau brüllte. Jordan hielt sich die Ohren zu, doch es war zu laut. Die Alte schrie noch lange, weil die Leichen, die sie zerpflückten, eine gewisse Zeit benötigten, um an ihre lebenswichtigen Organe zu gelangen. Der dicke, schwarze Mann aß Fleisch, das er ihr mit den Zähnen vom Rücken riss. Er trennte jeweils einen Streifen heraus und kaute gründlich, bevor er fortfuhr. Sie schlug um sich und kreischte unter seinem Gewicht. Während sie dies tat, warfen sich weitere Tote auf sie, bissen zu und zerrten an ihrem Körper. Sie kauten langsam, während sie sie am Boden festhielten. Sie schrie noch immer, als Jordan wegrannte.
Sie schaffte es zu ihrem Haus, wo sie nicht glauben konnte, dass ihre dämlichen Brüder noch lebten und wohlauf waren, auf dem Sofa saßen und sich mit Essen vollstopften. Als sie zuletzt mit ihren Eltern gesprochen hatte, waren beide wohlbehalten in ihrem Wochenendhaus gewesen, also hatte sie mit ihren Brüdern dorthin fahren wollen, aber da war kein Durchkommen. Nun versuchte sie schon seit Tagen, sich an den wandelnden Leichen vorbei zu stehlen und schleifte die beiden Dummköpfe mit. Sie schienen nicht zu begreifen, wie groß die Gefahr ringsum war.
Die Sonne ging langsam unter. Sie mussten ihren Weg fortsetzen, um nicht im Finsteren durch den Wald gehen zu müssen. Selbst in einer mondhellen Nacht sah man wegen der hohen Bäume und ihres dichten Blätterdachs die Hand vor Augen nicht, weshalb man nur schwerlich vorankam, ohne zu stolpern oder irgendwo anzustoßen. Jordan zog eine Decke aus ihrem Rucksack und wollte sie über dem bewusstlosen Riesenkerl ausbreiten.
»Wirklich?« Ihr Bruder klang verstimmt.
»Ja! Wir lassen diesen armen Mann nicht hier mitten im Nirgendwo herumliegen, und das nachts, damit wir weiter zu einem warmen, sicheren Haus gehen können. Ihr wisst, wie kalt es hier ist, wenn es dunkel wird. Gebt euch einen Ruck.« Sie packte den großen Kerl sorgfältig ein und nahm sich vor, wenn möglich, zurückzukehren, um nach ihm zu schauen.
Ihre Brüder machten sich bereits auf den Weg. Jordan schob dem großen, traurigen Mann immer noch ihre Decke unter.
»Ich wi… Ich will sterben«, nuschelte Sal wieder.
Sie tätschelte sein Gesicht noch einmal und beugte sich über ihn, während sie die Enden der Decke unter seinen Körper stopfte. »Ich habe dich nicht aufgelesen, damit du dich umbringst, okay?«
Sal nahm kaum wahr, was in seiner Umgebung geschah. Er sah Maria – beziehungsweise ihren Geist. Sie wuselte um ihn herum, ihr Haar streifte und kitzelte sein Gesicht. Das brachte ihn ein Stück weit zur Besinnung, und er erkannte, dass sie ihn rettete. Dann klopfte sie ihm wieder auf die Wangen und redete auf ihn ein, doch erst, kurz bevor er zurück ins Dunkel abdriftete, gelang es ihm, zu verstehen, was sie sagte.
***
Sal kam mitten in der Nacht zu sich. Den Himmel über ihm umrahmten die Umrisse von Ästen. Die Sterne leuchteten hell. Er zitterte, weil die nächtliche Luft kalt war – so sehr, dass es wehtat. Er blieb einen Moment lang still liegen und rekapitulierte seinen Traum. Maria hatte ihn gerettet, ja sogar mit ihm gesprochen: Ich habe dich nicht aufgelesen, damit du dich umbringst, Sal. Genau diese Worte hatte sie gesagt, dessen war er sich sicher.
Er setzte sich aufrecht hin, eine Decke rutschte von seinem Körper. Sal entsann sich, auf der Straße zusammengebrochen und vor Erschöpfung in Ohnmacht gefallen zu sein. Wenngleich er bäuchlings liegengeblieben war, hatte er sein Bewusstsein auf dem Rücken wiedererlangt. Er befühlte die weiche Decke. Woher kam sie? War ihm Maria wirklich erschienen? Er faltete den Stoff und legte sie über seine Schultern. So war ihm viel wärmer, und er schlief weiter, bis in die Früh.
Kurz bevor die Sonne aufging, wachte er auf. Die Kälte dauerte an, und Morgentau benetzte alles. Er fühlte sich jämmerlich, und als er aufstehen wollte, waren seine Glieder zu steif, zu wund, zu schwach. Seine Füße quälten ihn. Er hatte einen Schuh verloren, während der andere locker mit abgelöster Sohle auf seinen Zehen steckte. Nachdem er ihn abgestreift hatte, legte er sich wieder hin – eingewickelt in die Decke – und wartete darauf, dass sich die Sonne zeigte.
Er war hungrig und durstig, vor allem Letzteres. Was ihn zugedeckt in einen Wald verschlagen hatte, blieb ihm schleierhaft, doch der Traum, er kam ihm wirklich vor. Endlich war die Sonne so weit aufgestiegen, dass sie die Erde wärmte und bald auch trocknen würde. Sal wälzte sich herum, damit er auf allen Vieren hochkommen und schließlich versuchen konnte, sich hinstellen, als er zwei Dosen Suppe und Wasserflaschen entdeckte.
»Maria?«, fragte er leise in der Hoffnung, sie würde antworten, obwohl er wusste, dass dies nicht geschehen würde. Er war überzeugt davon, dass sie ihn gerettet hatte, und zweifelte doch an seinem Verstand.
Nachdem er beide Konserven aufgemacht und verzehrt hatte, trank er eine halbe Flasche Wasser. Zuerst wurde ihm davon übel, weil er so lange nichts zu sich genommen hatte, doch es dauerte nicht lange, bis er sich besser fühlte und wieder losmarschierte, die Flaschen an die Brust gedrückt und die Decke über die Schultern gelegt.
Als ihn etwas am Hals kitzelte, fuhr er sich mit einer Hand über die Haut und bekam ein langes, dunkles Haar zu fassen. Nun betrachtete er die Decke genauer; daran hafteten weitere Haare – Marias Haare. Sie musste ihn gerettet haben, daran bestand nun kein Zweifel mehr, und er zog sich den Stoff fester um den Oberkörper. Er vermisste sie und war immer noch traurig, ja totunglücklich, aber sie war zu ihm gekommen und hatte sein Leben gerettet. Zu überleben und das Glück wiederfinden, das musste er für sie tun. Er würde sie in Ehren halten, ihr ungeheures Geschenk an ihn. Deshalb begann er wieder, auf dem Highway 17 voranzuschreiten, und gelangte so nach San José.
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