Natürlich war es für Vernon Thaxter nichts Neues, splitternackt in der Stadt herumzulaufen. Er tat das immer, sobald es warm genug war. Im Spätherbst oder Winter dagegen sah man ihn nicht oft. Wenn er im Frühling das erste Mal auftauchte, war es immer ein Schock. Im Juli sah ihm schon niemand mehr hinterher und im Oktober war das fallende Laub interessanter als er. Dann kamen der nächste Frühling und somit auch Vernon Thaxter samt seiner Genitalien zur allgemeinen Ansicht.
Vielleicht fragt ihr euch, warum Sheriff Amory nicht aufstand und Vernon wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses im Gefängnis einlochte? Moorwood Thaxter, Vernons Vater, war der Grund, warum er das nicht tat. Moorwood Thaxter gehörte die Bank.
Außerdem gehörten ihm Green Meadows Dairy und das Immobiliengeschäft von Zephyr. So gut wie jedes Haus in Zephyr war bei Moorwood Thaxters Bank durch eine Hypothek finanziert. Ihm gehörten das Grundstück, auf dem das Lyric-Kino stand, sowie das Land, auf dem das Gerichtsgebäude gebaut war. Alles auf der Merchants Street war in seinem Besitz. Ihm gehörten die heruntergekommenen Hütten von Bruton und seine eigene Villa mitsamt ihrer achtundzwanzig Zimmer oben auf der Temple Street. Die Angst vor Moorwood Thaxter, der über siebzig war und selten gesichtet wurde, veranlasste Sheriff Amory auf seinem Platz sitzenzubleiben, und ließ den vierzig Jahre alten Vernon nackt durch die Straßen meiner Heimatstadt streifen. Soweit ich mich zurückerinnern konnte, war es schon immer so gewesen.
Mom sagte, dass Vernon ursprünglich ganz normal gewesen war. Aber dann hatte er ein Buch geschrieben, war nach New York gegangen und ein Jahr später nackt und närrisch heimgekehrt.
»Gentlemen und Ladies«, begann Vernon. »Und natürlich auch ihr Kinder.« Er streckte seine dürren Arme aus und klammerte sich an die Kanten des Podiums. »Wir sehen uns hier mit einer sehr ernsten Situation konfrontiert.«
»Momma!«, kreischte die Dämonin plötzlich. »Ich kann den Dödel von dem Typen …«
Eine Hand mit behaarten Fingern wurde ihr über den Mund gelegt. Ich nehme an, dass ihr Haus ebenfalls Thaxter Senior gehörte.
»Einer sehr ernsten Situation«, wiederholte Vernon, der nichts außer seiner eigenen Stimme registrierte. »Daddy hat mich mit einer Nachricht hergeschickt. Er sagt, er erwartet, dass alle Menschen dieser Stadt in dieser schwierigen Zeit wahre Brüderlichkeit und christliche Werte beweisen. Mr. Vandercamp Senior, Sir?«
»Ja, Vernon?«, antwortete der alte Mann.
»Würden Sie so nett sein, die Namen aller fähigen und rechtschaffenen Männer aufzuschreiben, die sich bei Ihnen Werkzeug ausleihen, um den Einwohnern von Bruton zu helfen? Mein Daddy würde das sehr schätzen.«
»Mit Vergnügen«, sagte Mr. Vandercamp Senior. Er war reich, aber nicht reich genug, um Moorwood Thaxter die Stirn zu bieten.
»Danke. Dann hätte mein Daddy eine Liste parat, wenn die Zinsen steigen, womit man in diesen unsicheren Zeiten rechnen muss. Mein Daddy hat schon immer gefunden, dass Männer – und Frauen –, die sich nicht davor scheuen, etwas für ihre Nachbarn zu tun, besondere Rücksichtnahme verdienen.« Lächelnd blickte er auf sein Publikum. »Hat sonst noch jemand etwas zu sagen?«
Niemand meldete sich zu Wort. Es ist irgendwie schwierig mit einem nackten Mann über etwas anderes als die Frage zu reden, warum er keine Kleidung tragen wollte, und niemand hätte im Traum daran gedacht, ein derart delikates Thema anzusprechen.
»Dann ist uns unsere Aufgabe klar«, sagte Vernon. »Ich wünsche uns allen viel Glück.« Er bedankte sich bei Bürgermeister Swope, dass er ihn hatte sprechen lassen, verließ das Podium und ging auf demselben Weg, den er gekommen war, aus dem Konferenzsaal. Das Rote Meer teilte sich erneut vor ihm und schloss sich hinter seinem Rücken.
Eine Minute lang oder so saßen alle schweigend da. Vielleicht warteten wir, dass Vernon Thaxter außer Hörweite war. Dann fing jemand an zu lachen und ein anderer stimmte in das Gelächter ein. Die Dämonin schüttelte sich vor Kichern und hüpfte auf und ab, aber andere Menschen riefen, es sollte mit dem Lachen aufgehört werden. Der Saal war wie ein fröhlich-flüchtiger Blick in die Hölle.
»Beruhigt euch! Alle Mann, beruhigt euch doch!«, schrie Bürgermeister Swope. Chief Marchette stand auf und brüllte wie ein Nebelhorn um Ruhe.
»Das ist Erpressung, verdammt noch mal!« Mr. Moultry war wieder auf den Beinen. »Nichts als verdammte Erpressung!« Ein paar andere stimmten ihm zu, aber Dad gehörte zu den Männern, die aufstanden und Mr. Moultry sagten, er solle den Mund halten und dem Fire Chief zuhören.
Und so wurde die Situation gelöst: Chief Marchette sagte, dass alle, die mit anpacken wollten, nach Bruton fahren sollten, wo der Fluss auf seinem Weg zur Gargoylebrücke über die Ufer trat, und dass er die Schaufeln, Spitzhacken und anderen Sachen aus Mr. Vandercamps Baumarkt mit ein paar Freiwilligen auf einen Pick-up laden würde. Nie war Moorwood Thaxters Macht offensichtlicher als in dem Moment, nachdem Chief Marchette seine letzte Anweisung gegeben hatte: Alle machten sich auf den Weg nach Bruton, sogar Mr. Moultry.
Brutons enge Straßen waren bereits überflutet. Hühner flatterten durchs Wasser und Hunde schwammen. Der Regen fiel wieder stärker, trommelte wie raue Musik auf die Blechdächer. Die schwarzen Bewohner der Bretterhäuser waren dabei, ihre Habseligkeiten herauszuholen, und versuchten sie an höhergelegene Stellen zu schaffen. Die Autos und Pick-ups aus Zephyr schlugen Wellen, die über die überfluteten Vordergärten schwappten und sich an den Hausfundamenten zu Schaum zerschlugen.
»Das wird übel werden«, sagte Dad.
Die meisten Einwohner von Bruton arbeiteten bereits in knietiefem Wasser am Flussufer. Eine Mauer aus nassem Sand wuchs in die Höhe, aber der Fluss war hungrig. Wir stellten unseren Pick-up in der Nähe eines Basketballplatzes am Bruton Sportcenter ab, wo bereits viele andere Autos geparkt waren, und wateten auf den Fluss zu. Nebelschwaden wirbelten über dem steigenden Hochwasser und die Lichtschwerter von Taschenlampen kreuzten sich in der Nacht. Blitze zuckten auf und Donner krachte. Ich hörte drängende Rufe von Menschen, dass schneller und härter gearbeitet werden musste. Meine Mutter griff nach meiner Hand und hielt mich fest, während Dad vorging, um einer Gruppe von Männern aus Bruton zu helfen. Jemand hatte einen Kipplaster mit Sand ans Flussufer gefahren. Ein Mann aus Bruton zog Dad auf die Ladefläche, und sie begannen, kleine Jutesäcke zu füllen und sie den regendurchweichten Männern zuzuwerfen. »Hier! Wir brauchen Hilfe! Hier!«, schrie jemand anderswo. »Das hält nicht!«, rief eine andere Person. Stimmen kreuzten und vermischten sich wie die Strahlen der Taschenlampen. In den Stimmen lag Angst. Ich hatte auch Angst.
Irgendetwas an außer Kontrolle geratener Natur rührt eine Urangst in uns Menschen an. Wir sind daran gewöhnt zu glauben, dass wir unsere Umwelt beherrschen und dass Gott uns die Erde geschenkt hat, damit wir darüber schalten und walten können. Wir brauchen diese Illusion so dringend wie eine Nachttischlampe. Die Wahrheit ist beängstigend: Wir sind so zerbrechlich wie junge Bäume in der Gewalt eines Tornados, und unsere geliebten Häuser trennt nur ein Hochwasser davon, Strandgut zu werden. Wir versenken unsere Wurzeln in zitternder Erde. Wir leben, wo Berge emporgehoben wurden und zerfielen, wo prähistorische Meere zu Nebel verbrannten. Wir und die Städte, die wir gebaut haben, sind nicht von Beständigkeit; selbst die Erde ist ein vorbeifahrender Zug. Wenn du in schlammigem Wasser stehst, das auf deine Taille zusteigt, und Leute gegen die Dunkelheit anschreien hörst und siehst, wie sie darum kämpfen eine Strömung einzudämmen, die sich nicht zurückweisen lässt, erkennst du die Wahrheit: Gewinnen werden wir nicht, aber aufgeben können wir auch nicht. Im prasselnden Regen an dem versinkenden Flussufer glaubte niemand, dass der Tecumseh sich umlenken ließe. Das hatte er noch nie. Und trotzdem ging die Arbeit weiter. Der Pick-up kam mit den Werkzeugen vom Baumarkt und Mr. Vandercamp Junior hielt ein Klemmbrett in der Hand, auf dessen Papier jeder unterschrieb, der sich eine Schaufel geben ließ. Aus Erde und Sandsäcken wurden Wälle errichtet und der Fluss strömte durch die Barrikaden wie braune Suppe durch einen Mund voller schlechter Zähne. Das Wasser stieg weiter. Meine Gürtelschnalle ging unter.
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