Inzwischen war von Fahlstrøm nichts mehr zu sehen. Dylan tigerte am Waldrand entlang und spähte durch die Baumstämme, doch die Sonne blendete ihn.
Schließlich kam Erik aus seinem Haus – ungewöhnlich zeitig, denn normalerweise war er gleichermaßen ein Langschläfer.
«Was ist los?», fragte er sofort.
Dylan hob die Hände an. «Ein Hund ist verschwunden. Thor sucht ihn im Wald.» Er blickte auf das Handy und hoffte inbrünstig, dass sein Partner bald zurückkam.
«Verschwunden?», wiederholte Erik und sah sich zu allen Seiten um. «Das ist merkwürdig.»
«Allerdings.» Dylan atmete entnervt aus. Die eigenartige Situation dauerte zu lange an. Doch plötzlich erschien Thor zwischen den Bäumen. Ein weißes Bündel lag in seinen Armen. Neben ihm trottete ein Schäferhund, der aufgeregt bellte.
«Oh my gosh!», rief Dylan entsetzt. Er lief Thor entgegen und erkannte, dass der den vermissten Hund transportierte. «Was ist mit ihm?»
«Er muss zum Tierarzt!», presste Thor hervor. Stapfend nahm er den Weg. Ebenso konzentriert steuerte er die Jeeps an.
«Ich fahre!», beschloss Erik. Er lief vorweg und öffnete die Türen seines Wagens. Thor legte den Hund auf den Rücksitz. Das Tier bewegte sich kaum und atmete schwer. Um sein Maul saß Blut im weißen Fell.
«Was hat er denn?», fragte Dylan aufgeregt.
«Wird sich zeigen», knurrte Thor, bevor er sich mit auf die Rückbank setzte. Erik schloss die Türen, begab sich hinter das Steuer und brauste los.
Wie zur Salzsäule erstarrt, blieb Dylan zurück: mit klopfendem Herzen und dem anderen Hund zu Füßen. Mit hoher Geschwindigkeit verließ der Jeep das Anwesen. Der Vorfall passierte so schnell, dass er gedanklich kaum hinterherkam. Schließlich riss ihn das Läuten des Handys aus dem Trancezustand.
Wie erwartet meldete sich ein Polizist auf dem Apparat, den Thor hätte mit sich führen müssen. Dylan konnte schwer in Worte fassen, was geschehen war. Es klang surreal und wenig glaubwürdig.
«Nein, er ist nicht abgehauen!», versicherte er. «Wir hatten einen Notfall mit einem der Hunde.»
Das Zetern des Beamten, der zu seinem gebrochenen Englisch ebenfalls norwegische Worte fallen ließ, war kaum zu ertragen. «Bitte, ich möchte Arvid Fahlstrøm sprechen!»
Es knackte in der Leitung. Ein paar Sekunden hörte Dylan eine nervtötende Melodie, bis er mit Thors Bruder verbunden wurde. «Was ist bei euch los?», fragte der sofort.
«Ein Hund ist krank», berichtete Dylan. «Thor ist zum Tierarzt; es war dringend.»
«Tierarzt», wiederholte Arvid. Er stieß einen tiefen Seufzer aus. «Wollt ihr mich auf den Arm nehmen?»
«Nein!», beteuerte Dylan. «Bitte, es wird nicht lange dauern. Dem Hund ging es wirklich schlecht.»
«Okay, ich gebe das ausnahmsweise als eine funktionelle Störung raus», erwiderte Arvid. «Ist er nicht in zwei Stunden zurück, lasse ich ihn abholen. Dann ist Schluss mit dem Zirkus!»
Er legte auf, ohne sich zu verabschieden, was signalisierte, dass er wütend war, denn normalerweise brachte einen Norweger nichts so schnell aus der Ruhe. Im Fall Fahlstrøm tickte die Uhr jedoch anders, da waren die Nerven flächendeckend überspannt. Die Schlinge zog sich mehr und mehr zusammen und Thor tat nichts dafür, um sie zu lockern.
Dylan taperte ins Haus zurück. Der Hund folgte ihm mit gesenktem Kopf. Ob er bemerkte, dass irgendetwas nicht stimmte? Regelmäßig sah er sich suchend nach seinem Gefährten um. Dylan konnte ihm nur gut zureden und im Nacken kraulen. Mit einer Tasse Kaffee setzte er sich auf die Treppenstufen vors Haus und wartete. Abwechselnd warf er einen Blick auf die Zeitanzeige des Handys und auf die Auffahrt.
Schließlich läutete sein eigenes Mobiltelefon. Es war Tony!
«Sag mal, wo ist Erik?», fragte der aufgebracht. «Er wollte uns vom Flughafen abholen und ich erreiche ihn nicht.»
«Oh, fuck, ja!» Dylan griff sich an die Stirn. Tonys Anreise, samt Tochter Susan, hatte er total vergessen. Erik war offensichtlich früh aufgestanden, um seinen Freund abzuholen. Das Ereignis mit dem Vierbeiner hatte sie allesamt vom geplanten Tagesablauf abgehalten. «Sorry, er war auf dem Weg. Aber jetzt ist er mit Thor in die Stadt. – Ein Hund ist schwer erkrankt.»
«Aha!», kam es nahezu vorwurfsvoll über Tonys Lippen. Dylan wusste, was er dachte, aber nicht aussprach. Wieso war er selbst nicht mit zum Tierarzt gefahren? Wieso war es Erik gewesen, der die Initiative ergriffen und Thor uneingeschränkt zur Seite gestanden hatte? Wieso hatte Thor nicht protestiert? Warum ließ er sich lieber von seinem besten Freund anstatt von seinem Partner fahren?
Insgeheim wusste Dylan, wieso. Auf Erik war in allen Lebenslagen Verlass. Im Gegensatz zu Dylan Perk war Erik Baardson ein gefestigter Charakter. Mit Thor zusammen gab er das robustere Team ab. Mehrfach hatte Dylan das beobachtet. Kam es hart auf hart, hatte Thor lieber Erik an seiner Seite als seinen psychisch angeschlagenen Partner.
Oder war es so, dass Thor ihn schützen wollte? Ihn nicht in unbequeme Lagen bringen wollte, in Situationen, die Nähe und Emotionen forderten. Weil er labil war, weil er ein Psycho war, weil er nahe dran war, an den momentanen Umständen zu zerbrechen. So, wie Emma es vorausgesagt hatte? War das der Grund?
Dylan räusperte sich. «Wo seid ihr? Ich hole euch ab.»
«Lass, wir nehmen die U-Bahn zum Bahnhof und ein Taxi.» Tony klang missgestimmt. «Bis gleich.» Er legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten.
«Fuck!» Dylan bemerkte, wie die Wut in ihm aufflammte. Der Besuch seines Freundes und Managers sollte etwas Besonderes werden. Das Treffen sollte ihm Land und Leute näherbringen – und das Verhältnis zu Thor verbessern. Auch Erik fieberte dem Wiedersehen entgegen. Eine gemeinsame Zeit konnte ihrer Beziehung auf Raten nicht schaden. Wenn allerdings schon die Anreise unter einem schlechten Stern stand – was würde noch passieren?
Es dauerte knapp eine Stunde, bis das Telefon erneut läutete. In der Zwischenzeit hatte Dylan rastlos vor dem Haus gesessen und eine Zigarette nach der anderen geraucht. Erik und Thor waren noch nicht zurückgekehrt. Es war Tony, der abermals anrief.
«Ja, wir stehen jetzt hier auf einem Parkplatz am See Sognsvann», erklärte er. Seine Stimme vibrierte gestresst. «Der Taxifahrer wollte nicht weiterfahren.»
Die Umstände musste er nicht näher erklären. Dort, wo die Sognsveien in den Wald abzweigte, wo keine Straße, sondern nur ein unebener Weg in die Wildnis führte, dort, wo man die Richtung zum Haus von Thor Fahlstrøm einschlug, war für die meisten Bürger die Reise zu Ende.
Dylan seufzte. Trotzdem war er froh, dass etwas passierte und er aktiv werden konnte. «Ich komme mit dem Wagen, wartet bitte.»
In rasanter Geschwindigkeit bretterte Dylan den Waldweg und die Sognsveien entlang. Da das Wetter gut war, tummelten sich Touristen und Einheimische rund um den See Sognsvann. Am Anfang des Parkplatzes warteten Tony und Susan. Neben ihnen standen zwei Koffer.
Tony, im schwarzen Bandshirt und enger Jeans, die seine kräftige Figur betonte, trug eine Sonnenbrille. Nach wie vor hatte er einen dichten Bart, sein Haar war zu einer modernen Kurzhaarfrisur geschnitten. Auch Susan war sommerlich gekleidet. Ihr hellbraunes Haar war zu einem Zopf geflochten und sie steckte in einem rosafarbenen Kleid. In einer Hand hielt sie ein Eis am Stiel. Vermutlich hatte Tony es ihr am Kiosk gekauft.
Dylan parkte, stieg aus und winkte ihnen zu.
Susan reagierte prompt. Erfreut winkte sie zum Gruß. Tony griff indes die Koffer und kam ihm entgegen. «Das ging ja schnell», sagte er zur Begrüßung.
«Ja, wir müssen auch sofort zurück, falls sich die Polizei meldet.»
«Die Polizei?», fragte Tony erschrocken. Sie marschierten zum Auto. Dort angekommen hievte er das Gepäck in den Kofferraum.
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