Bowie war auf ein Problem gestoßen, das sich durch die gesamte Rockgeschichte zieht und allen Kunstformen, die sich auf Vorstellungen von Realität und Naturalismus stützen, gemein ist: Durch Wiederholungen und fortlaufende Zeit wird jede einst schockierende, »echte« künstlerische Ausdrucksform früher oder später zur Gewohnheit. In der Pop- und Rockgeschichte hat sich dieser Prozess mehrmals wiederholt: Rock ’n’ Roll, Punk, HipHop – alles wurde zu einem Code, den Außenseiter jederzeit imitieren können, eine Tradition, die ihre originelle Funktion und ihre ursprünglichen Zusammenhänge überlebt hat. Ähnlich verhält es sich mit der Schauspielkunst: Jeder Versuch, deren Glaubwürdigkeit bei der Abbildung von Wirklichkeiten auf eine neue Ebene zu bringen (etwa mit Method Acting), ist letzten Endes gekünstelt – und damit genauso unauthentisch wie die Methoden, an denen sich Schauspieler sonst orientieren.
Wenn alle Versuche, die Wahrheit in Songs oder auf der Bühne zu repräsentieren, zum Scheitern verurteilt sind, wird die Lüge zur aufrichtigeren Alternative. Sich dazu bekennen, ein Scharlatan oder Poser zu sein, ist damit authentisch. Bowie gab 1974 in einem Gespräch mit Burroughs unverhohlen zu, dass er seine Meinung oft ändere: »Ich stimme mit dem, was ich sage, meistens nicht wirklich überein. Ich bin ein schrecklicher Lügner […]. Ich werde oft mit Dingen konfrontiert, die ich mal gesagt habe […], [aber] man kann nicht sein ganzes Leben lang auf einem Punkt beharren.« Das Konzept der Integrität war bloße Einbildung. Wir alle erfinden uns im Laufe unseres Lebens immer wieder neu.
Aus diesem philosophischen und spirituellen Durcheinander entstand schließlich Bowies Gewinnstrategie: ständige Imagewechsel (was man heute »Rebranding« nennen würde). Daraus ging nicht nur ein erfolgreicher Popstar hervor, sondern die einflussreichste Figur der Rockmusik der 1970er-Jahre. Die »David Bowie Is …«-Ausstellung inspirierte einen Werbetexter und Designjournalisten namens Jude Stewart zu einem Artikel mit dem Titel »Sechs Dinge, die ich von David Bowie über Branding gelernt habe«. Darin enthalten waren Lektionen wie »Authentizität ist überbewertet«, »Begründe deine Marke auf Verben, nicht auf Nomen« (in anderen Worten: Lass dich nicht auf einen Stil oder eine Methode festnageln) und »Eine Marke vervielfacht ihren Einfluss durch den Miteinbezug von Kultur« (heißt etwa: Es ist okay, Ideen aus anderen Bereichen der Pop- und Hochkultur zu klauen.)
Diese Herangehensweise – und die Idee, mit jedem Album Sound und Image zu wechseln – ist im Pop heute so weitverbreitet (was größtenteils Bowies Verdienst ist), dass es schwer ist, sich vorzustellen, wie unglaublich neu sie Anfang der 1970er war. Sowohl in Großbritannien als auch in Amerika betrachtete seriöse Rockkultur Hypes mit Argwohn und verlangte von Bands, ihren Beitrag durch jahrelanges, mühsames Touren durch das Land zu leisten. Fast jede angesehene Band dieser Zeit konzentrierte sich auf eine bestimmte Sache, an der sie dann graduell arbeitete. Man denke an die Stones, Clapton, Fleetwood Mac oder The Grateful Dead … an quasi jede. Integrität kam von Beständigkeit und Hingabe.
Eine weitere Weisheit Jude Stewarts war, dass »große Marken der Kultur den Weg weisen«. Auf Bowie traf das jedoch nur bedingt zu: Oft war er auch einfach nur schnell auf den Füßen, wenn es darum ging, das aufzugreifen, was sich gerade in obskureren Bereichen der Kultur abspielte. In seiner Anfangsphase hinkte er der Zeit sogar ein bisschen hinterher.
Zum Beispiel bei seinem dritten Album The Man Who Sold the World , das Ende 1970 in Amerika und Anfang 1971 in Großbritannien erschien. Die Musikwelt hatte zu diesem Zeitpunkt bereits seit ein oder zwei Jahren eine konzentrierte Rückbesinnung auf einfachen Rock ’n’ Roll unternommen. Federführend waren dabei derart große Namen wie John Lennon, Creedence Clearwater Revival und Bowies Freund Marc Bolan. The Man Who Sold the World hingegen lieferte einen Abriss von Spät-60er-Sounds à la Cream, Hendrix, Jefferson Airplane oder Jethro Tull.
Aus seiner mangelnden Begeisterung für diesen Stil machte Bowie keinen Hehl, er nannte diese Neuausrichtung sogar ganz offen eine Strategie: »Ich brauchte wohl einen Sound, der mehr heavy war, und offensichtlich hat es funktioniert. Es ist nicht so, dass ich mich dieser Musik besonders verbunden fühlen würde – das tue ich nicht. Tatsächlich halte ich sie für ziemlich primitiv.« Doch selbst als strategischer Zug hatte das Album schlechtes Timing. Der Underground war am Abbauen und rauer Rock ’n’ Roll eroberte die Spitze der Charts. Das Resultat war nicht sehr überzeugend – Bowies schrille Schreie über endlose Solos, bombastische Jam-Sessions und Taktwechsel –, auch weil er in den Prozess so wenig eingebunden war. Er gab die Verantwortung an Produzent Tony Visconti und, mehr noch, an seinen neuen Komplizen Mick Ronson ab, der nicht nur Leadgitarre spielte, sondern sich auch um die Arrangements kümmerte und de facto so etwas wie der Chefdirigent des Albums war.
The Man Who Sold the World – das zuerst Metrobolist in Anspielung auf Fritz Langs Metropolis heißen sollte – griff die Science-Fiction-Elemente von »Space Oddity« und »Memories of a Free Festival« (in dem Außerirdische von der Venus landen, mit den Hippies rumhängen und dann wieder verschwinden) auf. Hier lag Bowie auf einer Wellenlänge mit anderen Künstlern aus dem Hippie-Underground wie Jefferson Starship, dem Nebenprojekt von Jefferson Airplane, in deren Blows Against the Empire Hippies ein Raumschiff der Regierung stehlen und die Erde verlassen, um ein Paradies der »freien Seelen, freien Körper, freien Drogen, freien Musik« aufzubauen. Ähnlich auch die Cosmic-Rocker Hawkwind aus der Ladbroke Grove, deren Songs als Metaphern für einen Kampf der Freaks gegen den Faschismus aufgebaut waren. »Saviour Machine« ist der einzige Song auf The Man Who Sold the World , der sich direkt auf Science-Fiction bezieht. Er vermischt zwei Kubrick-Filme über außer Kontrolle geratene Technik, Dr. Seltsam und 2001: Odyssee im Weltraum mit dem verrückt gewordenen Supercomputer H.A.L. In Bowies Song wird ein Supercomputer, der programmiert wurde, um Krieg und Hungersnöte durch Logik und Planung auszumerzen, vor lauter Langeweile wahnsinnig und liebäugelt damit, die komplette Menschheit auszurotten, um sich selbst zu unterhalten.
Der Titeltrack wurde von Kritikern als eine Geistergeschichte oder ein unheimliches Rätsel interpretiert: Menschen, die gar nicht da sind, treffen sich im Treppenhaus. Es wird ohne Worte gesprochen. Die Zeit wird verzerrt, Identitäten ausgetauscht. Als von Science-Fiction begeisterter Teenager ließ mich das Bild vom »Mann, der die Welt verkaufte« immer an Frederik Pohls und C. M. Kornbluths Eine Handvoll Venus und ehrbare Kaufleute oder Alfred Besters Sturm aufs Universum und Tiger, Tiger! denken, die von Telepathie handelten und in denen übermächtige Firmen das Sonnensystem unter sich aufteilten. Andere nennen Robert Heinleins Der Mann, der den Mond verkaufte als möglichen Einfluss. »The Man Who Sold the World« ist jedenfalls mit Abstand der beste Song des Albums. Unter Leitung Bowies landete die schottische Sängerin Lulu 1974 mit ihrer Version einen Hit, später popularisierte Kurt Cobain die Nummer durch eine akustische Interpretation für Nirvanas MTV Unplugged .
Der zweite Lichtblick ist »The Supermen«, eine langsame Stampede von bearbeiteten Trommeln, die klingen wie Orchesterpauken und über die Bowie einen Text kreischt, der von einer untergegangenen Urrasse von Halbgöttern handelt. Hier ist weniger Science-Fiction der Einfluss als die Taschenbuchabenteuer aus dem Sword and sorcery -Genre * , zusammengewürfelt mit Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra . »Ich war immer noch in der Phase, in der ich so tat, als hätte ich Nietzsche verstanden«, gab Bowie 1976 in einem Radiointerview mit der BBC zu. »Vieles, was ich damals tat, kam davon, wie ich versuchte, Bücher zu vereinfachen, die ich gelesen hatte. […] Ich versuchte, sie so umzuschreiben, dass ich sie verstehen könnte.«
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