Bowie war ein regelmäßiger Besucher von Londons Tibetan Buddhist Institute, auch bekannt als das Tibet House. Hier traf er einen Mann im Safran-Gewand namens Chime Yong Dong Rinpoche. Durch diesen neuen Guru erfuhr Bowie von Plänen, in Schottland einen Zufluchtsort für Flüchtende vor der maoistischen Unterdrückung in Tibet zu etablieren: das Johnstone House in Eskdalemuir, Dumfriesshire. Er fing an, sich an dem Projekt zu beteiligen, das bald zahlreiche Popstars auf der Suche nach einem spirituellen Erweckungserlebnis anzog – Lennon und Ono, Leonard Cohen, The Incredible String Band –, wie auch einige Schauspieler und Schauspielerinnen. Eskdalemuir ist als »Pflegeheim für ausgebrannte Hippies statt einer religiösen Einrichtung« beschrieben worden. Spirituelle Reflexion war dabei nur eine Art und Weise, seine Zeit dort zu verbringen. Die anderen waren Sex und Drogen.
Bowie jedoch nahm seine Spiritualität ernst. Er war hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, die Jagd auf Ruhm und Glanz gänzlich hinter sich zu lassen und einem erneuerten Verlangen danach, es an die Spitze des Popbiz zu schaffen. Schließlich fing er wieder an, Strategien zu entwerfen und sich mit Leuten gutzustellen, die ihm helfen könnten, sein Ziel zu erreichen.
»Ich spiele mit dem Gedanken, alles hinzuwerfen. Ich wäre gerne ein buddhistischer Mönch«, erzählte der Sänger Ende 1967 in einem Interview. In einem veröffentlichten Gespräch mit William S. Burroughs Jahre später sprach er über eine Zeit, in der er genau das tun wollte, es aber vermasselte, als er sich zwei Wochen vor seiner endgültigen Verpflichtung betrank. An anderer Stelle behauptet er, sein Guru Rinpoche habe ihm davon abgeraten, weil der Buddhismus weder seine wahre Bestimmung noch seine Herzenssehnsucht sei – im Gegensatz zur Musik. In einer weiteren, möglicherweise ausgeschmückten Variante war es Lindsay Kemp, der ihn davon abgehalten habe, sich seine schönen Locken abzurasieren.
Der Name eines Kemp-beeinflussten Pantomime-Stücks von Bowie, »Jetsun and the Eagle« (das er zwischen 1968 und 1969 aufführte, unter anderem im Vorprogramm von Tyrannosaurus Rex), kam von einem tibetischen Jogi aus dem elften Jahrhundert namens Jetsun Milarepa, dessen Schriften Teil des Kanons der Mahayana-Schule des Buddhismus waren, der Bowie angehörte. Er beruht auf der Legende, dass Milarepa ursprünglich ein schwarzer Magier war, der seine Kräfte nutzte, um sich an seiner niederträchtigen Verwandtschaft zu rächen. Schließlich entsagte er den dunklen Künsten und begab sich auf einen höheren Pfad, auf dem er Erleuchtung und Selbstbeherrschung erreichte – und übernatürliche Kräfte wie die, seine Körperform zu verändern und zu fliegen. Manche buddhistischen Vorstellungen fanden auch Eingang in frühe Bowie-Songs wie »Karma Man« und »Silly Boy Blue« vom Debütalbum. Letzterer diente auch als Hintergrundmusik für Aufführungen von »Jetsun and the Eagle« und handelt von der faszinierenden Eigenartigkeit Tibets. Der Song enthält Referenzen auf »yak-butter statues« und Konzepte wie die Wiedergeburt, die Überseele und chela , ein Wort, das »Schüler« bedeutet und gewöhnlich dem »Guru« gegenübersteht.
Wenn der musikalische Ausdruck von Bowies ernsthaftem Interesse an asiatischer Spiritualität etwas infantil wirkt, tut man gut daran, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass er 1969 gerade einmal 22 Jahre alt war. Als jugendlicher Autodidakt wurde sein Interesse von verschiedensten Ideen geweckt – Buddhismus, Nietzsche, Oscar Wildes Ästhetizismus, Warhol und einige mehr. Daraus entstand eine sich noch entwickelnde Weltanschauung, deren einzelne Teile streckenweise noch miteinander unvereinbar waren. Im Gegensatz zu vielen von uns, die als Jugendliche vorläufige Gedanken über Kunst und Leben in ihre Tagebücher kritzelten oder später für Collegemagazine Essays verfassten, die schnell in Vergessenheit gerieten (zum Glück), blieben Bowies Jugendwerke der Nachwelt erhalten: Sie wurden auf Vinyl gepresst, das bis heute im Umlauf ist, und zudem später in hohen Auflagen wiederveröffentlicht. Durch YouTube, Songtextarchive und Fan-Webzines (mit umfangreichen Interviewarchiven) sind sie außerdem jedem offen zugänglich.
Man muss Bowie zugutehalten, dass er sich nicht vormachte, den großen Durchblick zu haben. 1972 gab er zu, »beim besten Willen kein Intellektueller« zu sein: »Ich würde mich eher als einen tastenden Denker beschreiben. Ich lese die Dinge auf …« In einem früheren Porträt bestritt er die intellektuelle Kompetenz seiner kompletten Branche: »Wir sind nicht die großen Denker unserer Zeit, wie man wegen der ganzen Interviews, die wir geben müssen, meinen könnte.« Stattdessen behauptete er, dass Musiker und Kritiker von »echter Reflexion« genauso weit entfernt seien wie ihre Gegner der politischen Rechten, die Rock als degenerierten Müll betrachteten: »Wir […] sind genauso naiv und engstirnig.«
Bowies Beziehung zum Buddhismus allerdings war von Intensität geprägt: Er war wahrhaftig auf der Suche nach Antworten. Aber was genau reizte ihn so an Mahayana, der größten Schule des tibetischen Buddhismus? Mahayana besteht aus einer komplizierten Ansammlung von Prinzipien und Konzepten, steckt dabei voller Widersprüche und schlägt Uneingeweihte so vor den Kopf. Ein paar der Themen haben dennoch einen bemerkenswerten Bezug zu Bowies Karriere. »The Songs of Milarepa«, so der Titel, unter dem Milarepas Schriften bekannt sind, betont die Notwendigkeit der Abspaltung, auch vom eigenen Körper. Bowie selbst hat gesagt, dass ihn »die Idee der Vergänglichkeit« nie in Ruhe gelassen habe: das Selbst als Hirngespinst, eine trügerische Illusion, die dünnste aller Membranen beim Verdecken einer profunden Leere. Im Buddhismus ist diese innere Leere aber nichts sorgenerregendes oder nihilistisches: Das wahre Ich ist das Kein-Ich, eine positive Leere, die sich von der eingebildeten »Substanz« einer öffentlichen Persönlichkeit unterscheidet. Wirklichkeit, die Welt der Erscheinungen, ist maya – ein Wort, das »Illusion«, »Magie« und »Traum« bedeuten kann. Aber nach der Mahayana-Leere ist auch das Selbst eine »magische Show«, nichts weiter als ein Spiegeltrick.
Diese Vorstellungen – die Alltagswelt als Illusion, das wahre Selbst als unsterbliche Essenz – haben gewisse Gemeinsamkeiten mit dem Gnostizismus, den Bowie auf seiner spirituellen Suche später erkunden würde: eine antiweltliche Einstellung, die Betrachtung der sogenannten Realität entweder als dunstige Einbildung oder gescheiterte Kreation einer falschen Gottheit. Der Welt abzuschwören bedeutet, Verlangen und Leid hinter sich zu lassen und so Klarheit zu erlangen.
Sich auf die Jagd nach dem Ruhm und Glanz der Popwelt zu begeben, scheint dem zu widersprechen. Gleichzeitig passt die Idee des leeren Selbst aber auch gut zu einer Karriere, die auf konstanten Veränderungen und Verwandlungen beruht, denn sie bietet quasi eine leere Leinwand für die Persönlichkeit. Hier harmoniert der Buddhismus unerwartet mit den performativen Vorstellungen von Geschlechts- und Eigenkonstruktion, die Camp und Drag zugrunde liegen.
Mit seiner Mischung aus Mahayana und der Camp-Theatralität Lindsay Kemps entwickelte Bowie eine Psychologie des Wandels und der Wandelbarkeit. Der Titel der Bowie-Retrospektive im Victoria and Albert Museum von 2013 spiegelt das gut wider: »David Bowie Is …« In verschiedenen Bereichen der Ausstellung wurde dieser Satz dann vervollständigt. Die vielsagendste Variante: »David Bowie Is … Making Himself Up.« *
Der Bowie der 1960er war noch ein Kind seiner Zeit, und die war von Wahrheit und Wirklichkeit besessen. Dementsprechend ärgerte er sich darüber, dass sein Selbst keinen authentischen Kern hatte. Doch mehr und mehr freundete er sich mit der Idee an, dass jedes Bild und jede Person der Öffentlichkeit gefakt ist, eine Täuschung. Denn so kann man Persönlichkeiten an- und wieder ausziehen, als wären sie Kostüme. »Für mich ist es viel realistischer anzunehmen, dass all das hier (Kleidung, Haare, Gestik) ich bin, dass sich dahinter nicht mehr verbirgt«, so Bowie in einem Interview. »Alles ist an der Oberfläche und ich bevorzuge es so.«
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