Gottfried Benn - Statische Gedichte

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Die Gedichte dieses Bandes entstanden zwischen 1937 und 1947. Ihre Publikation im Arche Literatur Verlag führte 1948 zum literarischen Comeback Gottfried Benns und machte ihn zu einer Leitfigur der jungen Bundesrepublik. In den ›Statischen Gedichten‹ erzählt Benn von einer tiefen Sehnsucht nach der Ferne, aber auch von Verblendung und der dunklen Vergangenheit seines Heimatlandes.

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Gottfried Benn

Statische Gedichte

ACH DAS FERNE LAND Ach das ferne Land wo das Herzzerreißende auf runden - фото 1

ACH, DAS FERNE LAND —

Ach, das ferne Land,

wo das Herzzerreißende

auf runden Kiesel

oder Schilffläche libellenflüchtig

anmurmelt,

auch der Mond

verschlagenen Lichts

– halb Reif, halb Ährenweiß –

den Doppelgrund der Nacht

so tröstlich anhebt –

ach, das ferne Land,

wo vom Schimmer der See’n

die Hügel warm sind,

zum Beispiel Asolo, wo die Duse ruht,

von Pittsburg trug sie der »Duilio« heim,

alle Kriegsschiffe, auch die englischen, flaggten halbmast,

als er Gibraltar passierte –

dort Selbstgespräche

ohne Beziehungen auf Nahes,

Selbstgefühle,

frühe Mechanismen,

Totemfragmente

in die weiche Luft –

etwas Rosinenbrot im Rock –,

so fallen die Tage,

bis der Ast am Himmel steht,

auf dem die Vögel einruhn

nach langem Flug.

QUARTÄR —

I.

Die Welten trinken und tränken

sich Rausch zu neuem Raum

und die letzten Quartäre versenken

den ptolemäischen Traum.

Verfall, Verflammen, Verfehlen –

in toxischen Sphären, kalt,

noch einige stygische Seelen,

einsame, hoch und alt.

II.

Komm – lass sie sinken und steigen,

die Cyclen brechen hervor:

uralte Sphinxe, Geigen

und von Babylon ein Tor,

ein Jazz vom Rio del Grande,

ein Swing und ein Gebet –

an sinkenden Feuern, vom Rande,

wo alles zu Asche verweht.

Ich schnitt die Gurgel den Schafen

und füllte die Grube mit Blut,

die Schatten kamen und trafen

sich hier – ich horchte gut –,

ein Jeglicher trank, erzählte

von Schwert und Fall und frug,

auch stier- und schwanenvermählte

Frauen weinten im Zug.

Quartäre Cyclen – Scenen,

doch keine macht dir bewusst,

ist nun das Letzte die Tränen

oder ist das Letzte die Lust

oder beides ein Regenbogen,

der einige Farben bricht,

gespiegelt oder gelogen –

du weißt, du weißt es nicht.

III.

Riesige Hirne biegen

sich über ihr Dann und Wann

und sehen die Fäden fliegen,

die die alte Spinne spann,

mit Rüsseln in jede Ferne

und an alles, was verfällt,

züchten sich ihre Kerne

die sich erkennende Welt.

Einer der Träume Gottes

blickte sich selber an,

Blicke des Spiels, des Spottes

vom alten Spinnenmann,

dann pflückt er sich Asphodelen

und wandert den Styxen zu –,

lass sich die Letzten quälen,

lass sie Geschichte erzählen –

Allerseelen –

Fini du Tout.

CHOPIN

Nicht sehr ergiebig im Gespräch,

Ansichten waren nicht seine Stärke,

Ansichten reden drum herum,

wenn Delacroix Theorien entwickelte,

wurde er unruhig, er seinerseits konnte

die Notturnos nicht begründen.

Schwacher Liebhaber;

Schatten in Nohant,

wo George Sands Kinder

keine erzieherischen Ratschläge

von ihm annahmen.

Brustkrank in jener Form

mit Blutungen und Narbenbildung,

die sich lange hinzieht;

stiller Tod

im Gegensatz zu einem

mit Schmerzparoxysmen

oder durch Gewehrsalven:

man rückte den Flügel (Erard) an die Tür

und Delphine Potocka

sang ihm in der letzten Stunde

ein Veilchenlied.

Nach England reiste er mit drei Flügeln:

Pleyel, Erard, Broadwood,

spielte für 20 Guineen abends

eine Viertelstunde

bei Rothschilds, Wellingtons, im Strafford House

und vor zahllosen Hosenbändern;

verdunkelt von Müdigkeit und Todesnähe

kehrte er heim

auf den Square d’Orléans.

Dann verbrennt er seine Skizzen

und Manuskripte,

nur keine Restbestände, Fragmente, Notizen,

diese verräterischen Einblicke –,

sagte zum Schluss:

»meine Versuche sind nach Maßgabe dessen vollendet,

was mir zu erreichen möglich war.«

Spielen sollte jeder Finger

mit der seinem Bau entsprechenden Kraft,

der vierte ist der schwächste

(nur siamesisch zum Mittelfinger).

Wenn er begann, lagen sie

auf c, fis, gis, h, c.

Wer je bestimmte Präludien

von ihm hörte,

sei es in Landhäusern oder

in einem Höhengelände

oder aus offenen Terrassentüren

beispielsweise aus einem Sanatorium,

wird es schwer vergessen.

Nie eine Oper komponiert,

keine Symphonie,

nur diese tragischen Progressionen

aus artistischer Überzeugung

und mit einer kleinen Hand.

ORPHEUS’ TOD

Wie du mich zurücklässt, Liebste –,

Von Erebos gestoßen,

dem unwirtlichen Rhodope

Wald herziehend,

zweifarbige Beeren,

rotglühendes Obst –

Belaubung schaffend,

die Leier schlagend

den Daumen an der Saite!

Drei Jahre schon im Nordsturm!

An Totes zu denken, ist süß,

so Entfernte,

man hört die Stimme reiner,

fühlt die Küsse,

die flüchtigen und die tiefen –,

doch du irrend bei den Schatten!

Wie du mich zurücklässt –,

anstürmen die Flussnymphen,

anwinken die Felsenschönen,

gurren: »Im öden Wald

nur Faune und Schratte, doch du,

Sänger, Aufwölber

von Bronzelicht, Schwalbenhimmeln –,

fort die Töne –

Vergessen –!«

– drohen –!

Und Eine starrt so seltsam.

Und eine Große, Gefleckte,

bunthäutig (»gelber Mohn«)

lockt unter Demut, Keuschheitsandeutungen

bei hemmungsloser Lust – (Purpur

im Kelch der Liebe –!) vergeblich!

drohen –!

Nein, du sollst nicht verrinnen,

du sollst nicht übergehn in

Jole, Dryope, Prokne,

die Züge nicht vermischen mit Atalanta,

dass ich womöglich Eurydike

stammle bei Lais –,

doch: drohen –!

und nun die Steine

nicht mehr der Stimme folgend,

dem Sänger,

mit Moos sich hüllend,

die Äste laubbeschwichtigt,

die Hacken ährenbesänftigt –:

nackte Haune –!

nun wehrlos dem Wurf der Hündinnen,

der wüsten –

nun schon die Wimper nass,

der Gaumen blutet –, und nun die Leier

hinab den Fluss –

die Ufer tönen –.

VERSE

Wenn je die Gottheit, tief und unerkenntlich

in einem Wesen auferstand und sprach,

so sind es Verse, da unendlich

in ihnen sich die Qual der Herzen brach;

die Herzen treiben längst im Strom der Weite,

die Strophe aber streift von Mund zu Mund,

sie übersteht die Völkerstreite

und überdauert Macht und Mörderbund.

Auch Lieder, die ein kleiner Stamm gesungen,

Indianer, Yakis mit Aztekenwort,

längst von der Gier des weißen Manns bezwungen,

leben als stille Ackerstrophen fort:

»komm, Kindlein, komm im Schmuck der Siebenähren,

komm, Kindlein, komm in Kett’ und Yadestein,

der Maisgott stellt ins Feld, uns zu ernähren,

den Rasselstab und du sollst Opfer sein –.«

Das große Murmeln dem, der seine Fahrten

versenkt und angejocht dem Geiste lieh,

Einhauche, Aushauch, Weghauch – Atemarten

indischer Büßungen und Fakirie –,

das große Selbst, der Alltraum, einem jeden

ins Herz gegeben, der sich schweigend weiht,

hält sich in Psalmen und in Veden

und spottet alles Tuns und trotzt der Zeit.

Zwei Welten stehn in Spiel und Widerstreben,

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