„Warum?“
„Weil du es ein wenig überzogen hast mit deinen Kontakten zur ,Familie‘.“
„Was kann ich dafür, dass Franco Postello mein Onkel ist?“
„Franco Postello ist nicht irgendein netter Onkel, sondern der Glücksspiel-Pate von New York. Er kontrolliert fast das komplette Buchmachergewerbe.“
„Und?“
„Und?“, äffte Ben seinen Angestellten nach. „Glaubst du, dass es unbemerkt bleibt, wenn du nach einem offensichtlich manipulierten Boxkampf, über den du im Vorfeld berichtet hast, plötzlich um einige Tausend Dollar reicher bist?“
Nick stutzte. „Wer hat dir das gesagt?“
„Nick, ich bin seit 20 Jahren Journalist in dieser kleinen Stadt hier am Hudson River.“
„Wenn du so sicher bist, dass ich mit dem manipulierten Kampf zu tun habe, warum feuerst du mich dann nicht?“
„Die Verlagsleitung wollte dich bereits abschießen. Aber ich habe gesagt, dass ich dich in meinem Team behalten will. Deine Quellen sind spitze, und deine Reportagen sind hervorragend geschrieben. Ich kenne keinen anderen Sportreporter, der so bildhaft und lebendig schreiben kann wie du. Das darfst du als Kompliment auffassen. Ich sage das nicht nur so dahin. Ich glaube an dich. Aber erst mal sollte ein wenig Gras über die Sache wachsen. Auch deshalb, weil die „New York Times“ bereits Nachforschungen angestellt hat. Die wollen uns ans Leder und mit einem Skandal aufmachen. Aber das könnte denen so passen. Fahr nach Italien, reise ein wenig um die Welt und schreib uns nette Geschichten über Fußball“, sagte Ben, klopfte Nick noch einmal auf die Schulter und ging in sein Büro, um kurz darauf noch einmal kurz vor seine Bürotür zu treten. „Ach ja, Nick, sagst du auf deinem Weg nach Europa Nicole vorne noch Bescheid, dass sie mir einen neuen, heißen Kaffee vorbeibringt? Danke.“
Das Klappen von Bens Bürotür in der New Yorker Redaktion hallte Nick auch in Piagnolia noch immer in den Ohren. Er war nicht zufällig in diesem kleinen Dorf hängengeblieben. Piagnolia lag nicht weit von Florenz entfernt, wo nicht nur das Grab seines Vaters lag, sondern auch das WM-Organisationskomitee tagte. Nicks Unterkunft in Piagnolia war preiswert. Die Witwe Garezza, eine weit entfernte Cousine seines Vaters, die allein mit ihrer Nichte Antonia ein großes Anwesen in Piagnolia bewohnte, hatte ihm für wenig Geld ein Zimmer vermietet. Das sparte einen Teil der Reisekosten, die er noch für die teuren Transatlantikflüge benötigen würde. Nick schichtete einen kleinen Stapel mit frischen Hemden aufeinander. Seine nächste Reportage sollte ihn nach Mailand führen. Morgen würde dort Italien gegen Griechenland spielen. Alles andere als ein deutlicher Sieg der italienischen Blauhemden über die griechische Fußballauswahl wäre eine Blamage für Italien. Nick klappte seinen Koffer zu und steckte sein Notizbuch in seine Jackentasche. Er schaute aus dem Fenster. Sein Blick wanderte zum Haus des Bürgermeisters, aus dem ein herzhafter Fluch zu hören war, der ihn aus seinen Gedanken riss.
Bürgermeister Agostino hatte noch mit dem starken Kaffee zu kämpfen, den er morgens kurz nach dem Aufstehen als einziges Frühstück zu sich nahm. Sein Magen rumorte, und sein Darm schmerzte. Die Blähungen brachten ihn fast um. Aber das lag nicht allein am Kaffee. Es war vor allem eine gewisse Nervosität, die sich seit ein paar Tagen im ganzen Körper breitgemacht hatte und nun seine Gedärme fast platzen ließ. Was wollten die beamteten Querköpfe aus Rom nur von ihm? Warum war ihnen ausgerechnet jetzt eingefallen, jemanden nach Piagnolia zu schicken? Jahrelang hatte niemand in der Hauptstadt überhaupt Kenntnis genommen von dem kleinen Ort, und jetzt plötzlich sollte ein Schwarzhemd nach dem Rechten sehen. Verfluchte Schwarzhemden. Es hatte sich einiges geändert in den vergangenen Jahren. Seit mehr als einem Jahrzehnt in Italien und nun seit einem Jahr auch nördlich der Alpen regierten Männer in dunklen Uniformen – sowohl in den Amtsstuben als auch auf den Straßen. Immerhin: In Piagnolia wehte auf dem Rathaus nicht die Fahne der Faschisten. Hier gab es auch keine schwarz Uniformierten. Agostino, der Bürgermeister, war überzeugter Kommunist. Als junger Kämpfer des Proletariats war er noch 1907 zusammen mit Benito Mussolini nach Stuttgart gereist, um auf dem dort stattfindenden Sozialistenkongress in Gegenwart von August Bebel, Rosa Luxemburg, Lenin und Trotzki Kapitalismus und Krieg zu verurteilen. Den Gesinnungswandel seines einstigen Weggefährten, der nun als Duce von Rom aus das neue Römische Reich ausrief, hatte Agostino nicht nachvollziehen können. Diese modernen Ideen eines patriotischen Sozialismus in faschistischem Gewand waren ihm zu kompliziert. Er vertrat das Landproletariat in Piagnolia auf seine Weise und in sehr großzügiger Auslegung der Vorgaben aus Rom. Patriotismus bedeutete für ihn, stolz auf seinen Heimatort und seine Herkunft zu sein. Sozialismus bedeutete Unabhängigkeit von Rom. Auf diese Formel ließen sich Agostinos politische Überzeugungen reduzieren. Offizielle Wahlen hatte es hier seit 16 Jahren nicht mehr gegeben. Eine Opposition, die dagegen hätte protestieren können, existierte ohnehin nicht. Unabhängigkeit von Rom war ein gutes Prinzip, das niemand infrage stellte.
Und damit wurde auch Agostino nicht infrage gestellt, der sich hervorragend darauf verstand, auf seine ganz eigene Weise solide Infrastruktur- und Wirtschaftspolitik zu machen. Piagnolia versorgte sich selbst mit Wasser aus dem Fluss. Strom bezog man von einer Leitung, die eigentlich Florenz mit Energie versorgte. Agostinos Neffe, der vor einigen Jahren als Bauleiter eine Reparatur der Leitungen betreut hatte, sorgte damals unbürokratisch für eine Abzweigung nach Piagnolia. Auf den Bau einer Telegrafenleitung verzichtete man allerdings, um nicht das Aufsehen der Verwaltung auf sich zu ziehen. Einmal pro Woche kam Lorenzo, der Briefträger aus Florenz, und brachte die Post – wenn es welche gab. Aber er kam auch, wenn es keine gab. Für einen Wein und einen Plausch in der Trattoria am Marktplatz hatte er immer Zeit. Lorenzo hatte immer etwas zu erzählen über Florenz und über Rom, wo sein Bruder im Staatsdienst arbeitete. Lorenzo war ein begnadeter Geschichtenerzähler, und seine Berichte über Florenz, seine Familie und Rom waren fast immer spannend. Ansonsten aber ignorierten die Einwohner Piagnolias den Rest der Welt, also auch den Rest von Italien – und dessen Staatsapparat im Besonderen. Und sie genossen die Ignoranz des Staates ihnen gegenüber. Seit Generationen zahlte hier niemand Steuern nach Rom.
Doch der Brief, den er jetzt in den Händen hielt, beunruhigte Bürgermeister Agostino. Das Schreiben war vor zwei Wochen eingetroffen, von Fabrizio Rettolino, der heimlichen rechten Hand des Duce, persönlich unterschrieben. „Agostino!“, stand darin, „Wie Du weißt, blüht das italienische Imperium durch die weise Voraussicht und Kühnheit unseres Duce zu neuer Pracht und Größe auf. Von Mailand bis Sizilien wehen unsere Fahnen über den Städten, in Afrika erobern wir neue Kolonien …“ Agostino übersprang die nächsten fünf Absätze über die Huldigung der italienischen Größe und der Auferstehung des Römischen Reiches und las die entscheidenden Zeilen: „… werden wir in zwei Wochen Oberst Vittorio Briccone nach Piagnolia schicken, um die Kommunalverwaltung neu zu organisieren und sicherzustellen, dass die Ideale des Faschismus auch im Rückgrat des italienischen Heimatlandes fest verankert werden. Außerdem wird Oberst Briccone mit Dir über unsere neuen Steuerpläne reden.“ Steuerpläne. Agostinos Sodbrennen machte sich wieder bemerkbar. Warum kommandierte Oberst Briccone nicht irgendeine Garnison irgendwo in der neapolitanischen Diaspora, anstatt hier die friedliche Ordnung Piagnolias auf den Kopf zu stellen? Hier musste nichts neu organisiert werden. Alles sollte einfach nur beim Alten bleiben, dann war alles gut. Agostino hasste Veränderungen. Er würde Briccone vor die Tür setzen. Schrotkugeln würde er diesem eingebildeten Römer in sein verlängertes römisches Rückgrat schicken, damit er niemals vergaß, wer hier in Piagnolia für Ordnung und Gerechtigkeit sorgte. In diese Gedanken hinein mischten sich allmählich lauter werdende Motorengeräusche. Sie kamen eindeutig nicht von einem Traktor. Es war wohl ein Motorrad. Das konnte nur bedeuten, dass Rom sich näherte – auf zwei Rädern in Gestalt von Oberst Briccone! Angst und Wut stiegen in Agostino auf. Das Sodbrennen wurde heftiger. Der Magen krampfte. Agostino stürmte die Treppe hinunter und stolperte über den Hof zur Toilette.
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