Rums, machte es. Die beiden jungen Mädchen erschraken, mußten aber heftig lachen, als sie hörten, wie die Gustel murmelte: »Ach entschuldigen Sie, Herr Generaldirektor!«
Warum sie den Lichtmast ausgerechnet für diesen hohen Herrn hielt, war unerfindlich. Regine lachte noch, als sie die Messingklingel an der Tür des Doktorhauses zog.
Lore war umgekehrt. Regine trat in die Eßstube, wo ihre Mutter zu sitzen pflegte – nein, nicht allein. Auf dem Stuhl, vor ihrem Platz am Fenster, stand etwas, was Regine lauthals aufjuchzen ließ: Friederikes kleines Schaukelpferd. Da stand es, so gut repariert, daß es kaum auffiel, neue Beine eingeschraubt, tipptopp in Ordnung. Es war nun nicht mehr so hell wie früher, sondern, von liebevollen Kinderhänden glatt gestrichen, dunkler geworden, aber mit dem gleichen ausdrucksvollen Kopf. Die Mutter war sehr gerührt.
»Nun brauchen wir es Vater nicht zu erzählen.«
Aber die beiden Frauen erlebten eine Überraschung. Friederike hatte das kleine Schaukelpferd natürlich auch gesehen, sie stürzte sich aber nicht, wie man hätte annehmen sollen, auf ihr bisher so geliebtes Spielzeug, sondern blieb mit funkelnden Augen davor stehen.
»Das will ich nie mehr haben«, stieß sie hervor, »das könnt ihr behalten. Ich will kein Pferdel mehr – macht damit, was ihr wollt –« Sie drehte sich um und rannte aus dem Zimmer. Als Regine später nach ihr schaute, fand sie die Kleine im Bett liegen, schlafend, das Gesichtchen tränenverschmiert. Merkwürdig. Sie ging zur Mutter zurück.
»Mutter«, sagte sie nach einer kleinen Weile, als sie berichtet und dann geschwiegen hatte. »Wenn wir, Martin und ich, einmal Kinder haben sollten – gibst du es uns dann?«
»Wollt ihr denn Kinder?« fragte die Mutter sacht. Über so etwas sprach man in den Familien nicht. Regine war froh, daß es dunkel war. Kinder. Sich Kinder wünschen, Kinder bekommen – dies alles war ein Kapitel, über das man nicht sprach. Nicht Mutter, nicht Vater, nicht einmal hier, in einem Arzthaus.
»Na ja – Lore sagte –« Regine verstummte.
»Was sagte denn Lore?« fragte Mutter geniert.
»Sie sagte – ich meinte, ob sie glaube, daß sie Kinder bekäme.« Regine brach ab, sich des Unpassenden dieses Satzes bewußt.
»Na? Was –«
»Sie sagte: ›Hach, das wär’ gelacht!‹« gestand Regine und war erleichtert, als sie die Mutter lachen hörte. Mutters halblautes, zärtliches Lachen, das sie so liebte; aber bei solch einem heiklen Thema ...
Sie entfloh, sobald es ging, in ihr Zimmerchen hinauf. Die Mutter blieb zurück. Nachdenklich, auch geniert und mit schlechtem Gewissen. Wäre das nicht eine – ja die Gelegenheit gewesen?
Aber sie hatte sich nicht getraut.
Die Hochzeitsreise des jungen Paares ging nach Wölfelsgrund, einem Luftkurort in der Nähe. Regine hatte, wie es üblich war, weinend am Hals ihrer Mutter gehangen, als sie sich verabschiedeten, und der Abschied vom Vater tat auch weh. Wer würde nun mit ihm auf Praxis fahren? Friederike war noch zu klein.
»Man kann nicht gewinnen, ohne zu verlieren«, hatte Mutter Regine noch zugeraunt. Ob die Tochter es verstanden hatte? Ob sie verstand, daß auch sie, die Mutter, hergeben mußte?
Leipzig
1907
Im August des folgenden Jahres kam Regines erstes Kind zur Welt, ein sehr ersehntes Kind, mit Freude und Dankbarkeit begrüßt, der schönste und herrlichste Sohn der Welt.
»Eigentlich müßte er ja Fritz heißen, meinen Eltern zuliebe«, sagte Regine, als sie endlich mit Martin allein war. Sie hatte zu Hause entbunden, in Leipzig-Reudnitz, auf dem Täubchenweg (sprich: Deibschenwech), im dritten Stock, mit Hilfe einer Hebamme und eines Arztes. Es war nicht ohne Zange gegangen. »Aber weil er so ein besonderes Kind ist – er wird bestimmt einmal etwas ganz Großes –, bleiben wir doch bei Alexander.« Alexander der Große – er war fünf Zentimeter länger, als sie selbst bei der Geburt gewesen war, wie sie durch Zufall wußte.
Martin war nach einigem Überlegen einverstanden. Seiner Bescheidenheit stand Regines Begründung ›weil er doch etwas ganz Großes wird‹ zwar absolut entgegen, aber Alexander war gleichzeitig auch ein traditioneller Name in der Familie Geist. So konnte er es vor sich selbst begründen. Regines Mutter kam auf das sofort abgeschickte Telegramm hin angereist, um die Tochter zu pflegen, und Martin fuhr mit dem Schwiegervater in die Alpen. Sie erstiegen die Zugspitze. Das Foto, das dort geknipst wurde, hielt sich generationenlang in der Familie: der Vater mit einem Kopftuch, das über seinen Hut gebunden war. Den Damen wurde diese Besteigung erst hinterher mitgeteilt.
Alexander entwickelte sich normal und bekam, schneller als erwünscht, eine Schwester. Martin war mit einem Kind einverstanden gewesen, er hielt es für seine Pflicht, der Familie einen Erben zu bringen, aber gleich danach ein zweites Kind und noch dazu ein Mädchen? Er sah sehr bedenklich drein und ließ auch ein paar Worte fallen, etwa: dies sei nun genug. Die Mutter und Regine schwiegen.
Der Name für die Tochter machte Schwierigkeiten. Da der Sohn einen so hochtrabenden Namen erhalten hatte, meinte Martin, dürfe man das zweite Kind nicht entgelten lassen, daß es ein wenig zu zeitig und sozusagen ungefragt zur Welt gekommen sei, und stimmte Regine zu, daß es Isolde heißen solle. Isolde Geist, warum nicht?
Das Kind war klein, häßlich und sah einem wenig geliebten Vetter der Familie ähnlich. Dabei war es recht ungebärdig, nicht solch ein pflegeleichtes Baby wie Alexander, der in seinem bisher kurzen Leben noch keine Sorge und keinen Ärger verursacht hatte. Es war gierig und verfressen und wurde vom ›großen‹ Bruder wenig freundlich empfangen.
Auch später entwickelte sich Isolde nicht zu einem hübschen Kind, nicht einmal in der Zeit, in der alle Halbwüchsigen reizend aussehen. Sie hatte etwas zu hellblaue Augen unter einem dunkelblonden Schopf, einen breiten Mund und ziemlich abstehende Ohren. Deshalb flocht Mutter Regine ihr, sobald es möglich war, Zöpfe und rollte sie über den Ohren zu Schnecken auf, eine Frisur, die Isolde haßte. Das Haar kurz zu tragen wie ein Junge, was sie sich heiß wünschte, erlaubten die Eltern ihr nicht. Alexander mochte die Schwester nicht, er faßte sie nie an.
Obwohl diese beiden Kinder zunächst die einzigen blieben und daher aufeinander angewiesen waren, vertrugen sie sich nicht gut miteinander. Alexander, zart und muttergebunden, neidete der Schwester den Platz, den diese robust und ziemlich rücksichtslos bei der Mutter erkämpfte, er nannte sie Isott und später Idiot, ein Spitzname, den die Mutter lachend duldete, stammte er doch von ihrem angebeteten Ältesten. Isolde aber litt darunter, als sie verstand, was er bedeutete. Zunächst war sie dem Bruder körperlich überlegen; wehrte sich, wenn er sie angriff, spuckte und kratzte. Als Alexander mit etwa fünf Jahren zu den Großeltern nach Camenz fuhr – er litt an immer wiederkehrenden Asthmaanfällen, da war Luftveränderung angezeigt –, wurde er dort von der Großmutter mit gleichaltrigen Jungen zusammengebracht und entwickelte sich zu dem, was man einen ›richtigen Jungen‹ nannte. Jedenfalls war er fortan der Dominierende und blieb es sein Leben lang, bemüht, diese Vorherrschaft beizubehalten und Isolde zu ducken, wo es nur ging. Er war der weitaus Begabtere, war älter und ein Junge, also in jeder Beziehung im Vorteil. Aus jener Zeit stammte wohl auch Isoldes sehnlicher Wunsch, ein Junge zu sein.
Die Familie war inzwischen umgezogen und wohnte jetzt nicht mehr auf dem Täubchenweg, sondern in einer netten Vorstadtstraße, allerdings im Osten der Stadt, weil das Bibliographische Institut auch im Osten lag und Martin in Sparsamkeit und Bescheidenheit darauf bestand, seinen Weg zur Arbeit täglich zu Fuß zurückzulegen. Im zweiten Stock einer hübschen Neubauwohnung mit Vorgarten und zwei Balkonen wuchsen die Kinder auf, ohne einen Kindergarten zu besuchen, da sie ja zu zweit waren.
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