1 ...8 9 10 12 13 14 ...17
Wieder Camenz. Ängste
1916
Es waren zunächst glückliche Jahre für die Kinder. Sie sprachen wieder Schlesisch. Sächsisch hatten sie in Leipzig nicht sprechen dürfen. Großvater Haberland hatte seinen Spaß an den Dummheiten, die sie machten. Mitunter wetterte er auch, aber er verschwieg es, wenn er Iso zu Pferde sah – sie hielt sich mehr im Stall auf als im Haus, ritt in die Schwemme, zum Schmied und war gut Freund mit den jeweiligen Kutschern. Mutter Regine wartete auf ihr Kind, eingehüllt in die Liebe und Sorge ihrer Eltern, und war selig, wenn Martin auf Urlaub kam. Friederike ›half‹ im Haus, las den Kindern abends aus dem alten bewährten Märchenbuch vor, zankte sich mit Regine und hatte zwar keinen Schulabschluß, dafür aber um so mehr Verehrer. Eines Tages verlobte sie sich mit einem jungen Lehrer aus der Nachbarschaft. Ihren Eltern paßte das gar nicht, und sie erreichten, daß die Verlobung wieder gelöst wurde. Ein sehr entfernter Vetter, der zufällig Fritz hieß, Fritz Haberland, und aus Neustadt in Oberschlesien stammte, dem Ort, in dem auch Großvater Haberlands Wiege gestanden hatte, verehrte sie von fern. Er schrieb ihr viele Feldpostbriefe – er war in Palästina eingesetzt und erlebte den Krieg wie ein großes Abenteuer. Elfmal wurde er verwundet. Ein Mann, der immer guter Laune war, ein großer, kräftiger, liebenswerter Mann, der Friederikes Eltern als Schwiegersohn sehr willkommen gewesen wäre. Friederike las seine Briefe, steckte sie weg und antwortete nicht oder nur selten. ›Vielleicht lern’ ich noch mal einen netteren kennen‹, dachte sie, und sie hatte insofern recht, als sie noch so jung war.
Im Doktorhaus gingen viele Leute aus und ein. Ein nur leicht verwundeter Medizinstudent, der in einem der beiden Lazarette im Dorf lag, schloß sich an Vater Haberland an und kam dadurch in die Familie. Er war zwei Jahre älter als Friederike und flog natürlich auf die Reize der schönen jungen Arzttochter. Wer sich jedoch bis zum Wahnsinn in ihn verliebte, war nicht Friederike, sondern Iso.
Ein bißchen schmeichelte es Friederike auch, daß dieser junge Mann sie bewunderte. Er hatte schöne, große blaue Augen – Augen wie ein gestochenes Kalb, bemerkte Alexander, als er entdeckte, wie es um Iso stand –, hing an Großvater Haberland, spielte mit Alexander Schach und versäumte keine Unternehmung des jungen Volkes. Er ging mit den Kindern Krebse fangen, brachte Alexander und Iso im Mühlengraben das Schwimmen bei, half im Garten und war ein eifriger Schüler Vater Haberlands. Friederike hatte eben das »Buch der Lieder« von Heinrich Heine entdeckt, das Iso ihr bald stibitzte und daraus auswendig lernte, was immer ihr gefiel. Sie erlebte ihre erste Liebe sehr stürmisch, vergoß Tränen in der Nacht, machte Gedichte, war selig, wenn der Angebetete zu Tisch geladen wurde, kurz, es war eine herrliche Zeit im Doktorhaus. Zwar drängte der Krieg mit Extrablättern und Verwundetenlisten herein, aber sie waren doch ziemlich seitab. Martin war auf Borkum eingesetzt, wo der Landsturm sozusagen auf Wache stand, bräunte sein blasses Gelehrtengesicht und schrieb zuversichtliche Briefe. Die einzige, die Unheil ahnte, war Großmutter Haberland. ›Mütter sind wie Seevögel, sie wittern den Sturm, lange ehe er ausbricht‹, sagte sie manchmal. In dem sehr kalten Winter neunzehnhundertsiebzehn kam Regines drittes Kind zur Welt, Christiane, gesund und mit Begeisterung begrüßt. Friederike erwies sich als die zärtlichste Tante, und Regine dankte Gott, daß ihr Vater das Kind in Empfang nahm, sie wäre ohne Arzt an einer starken Blutung gestorben, hätte er nicht rechtzeitig tamponiert.
Die Taufe wurde ein großes Familienfest. Natürlich richtete man sich mit dem Termin nach Martins Urlaub, dann aber wurde alt und jung eingeladen. Iso mußte ein Festlied nach der Melodie »Wohlauf, noch getrunken den funkelnden Wein!« dichten, das gemeinsam gesungen wurde. Sie tat es mit Freuden, weil sie gerade die Lyrik entdeckt hatte. Alexander allerdings fand, was sie ›dichte‹, sei Kitsch; einmal aber fiel er gehörig herein. Er hatte ein von ihr geschriebenes Poem irgendwo gefunden – Iso versteckte zwar ihre Elaborate meist, ließ sie aber andererseits auch wieder herumliegen, da sie zu Regines Kummer und Ärger sehr liederlich war – und brachte es voller Hohn vor der ganzen Familie zum Vortrag.
»Hört mal, was Idiot von sich gegeben hat!«
Alles verstummte. Er begann mit Pathos:
›»Das Hängelämpchen qualmt im warmen Stalle,
in dem behaglich sich zwei Kühe fühlen,
Der Hahn, die Henne, um den Sproß die Kralle –‹«
Es war ganz still. Alle hörten zu.
»Na? Wunderbar! Einfach klassisch!« kommentierte Alexander, als er die beiden Strophen zu Ende rezitiert hatte. Die Familie schwieg noch immer. Dann sagte die Großmutter langsam, ein wenig in sich hineinhorchend, aber überaus deutlich:
»Das, Alexander, ist, glaube ich, nicht von deiner Schwester. Sie hat es wohl irgendwo abgeschrieben, weil es ihr gefiel. Wenn ich mich nicht täusche, ist es von Detlev von Liliencron. Sei so gut, bring mir mal das dicke Buch dort, da steht es sicher drin.«
Es stand darin. Und Alexander war der Blamierte.
»Sie dichtet aber sonst immer fürchterlichen Quatsch«, knurrte er und warf seiner Schwester einen wütenden Blick zu. Jeder in der Runde verstand, daß dies nur ein schwaches Rückzugsgefecht war. Iso freilich wußte, daß es noch ein Nachspiel geben würde. Alexander boxte, wenn er wütend war, absichtlich grob, ihre Oberarme trugen ständig blaue Flekken. Da sie nicht petzte – Petzen war verpönt –, mußte sie hinnehmen, was ihr blühte. Immerhin, in diesem Fall war er der Dumme gewesen, das war nicht mehr zurückzunehmen.
Isos Liebe zur Dichtkunst wurde in diesem Jahr sehr unterstützt. Der junge Mediziner, mehr und mehr zur Familie gehörend, schlug vor, daß die Jugend des Hauses, also Friederike, die beiden Kinder und er nun jede Woche ein Gedicht lernen und am Sonntag vortragen sollten. Jeder hatte die freie Wahl. Friederike entschloß sich als erstes für die »Wallfahrt nach Kevelaer«, Iso für die »Schwäbische Kunde«. Bald lernte man freiwillig ein zweites dazu, oft lange Balladen wie die »Bürgschaft«; das Auswendiglernen fiel immer leichter. Sogar an die »Glocke« und Wildenbruchs »Hexenlied« wagte sich der eine oder andere. Es war eine höchst anregende Zeit. Meist hockte irgendwo in einer Ecke einer, die Finger in die Ohren gesteckt, und memorierte.
Großmutter Haberland sah es mit Freude und leichter Rührung. Sie selbst wußte unzählige Gedichte auswendig und ließ sich nicht lange bitten, wenn die Kinder mitunter stürmisch nach Bürgers »Lenore« verlangten oder auch nach anderen geliebten Gedichten. Bei manchen wußte sie selbst nicht, woher sie sie kannte, und die Kinder, nun schon größer, baten immer wieder um Gedichte, die sie ihnen ganz, ganz früher aufgesagt hatte: »Wie hoch mag wohl der Himmel sein« oder das Storchengedicht »Man soll nicht aus der Schule plappern«. Vor allem für Iso, die sich so oft und mit Absicht ruppig und jungenhaft benahm, waren Gedichte ein heimlicher Schatz, den sie hütete und stetig erweiterte, ihr ganzes Leben lang.
Im Doktorhaus befand sich unterm Dach eine schöne, helle Giebelstube, in der die Hase-Rosa wohnte. Schon Regine hatte bei der Hase-Rosa Stricken gelernt, und das, meinte sie, müsse auch Iso, obwohl sie für weibliche Arbeiten wenig Talent und niemals Lust hatte. Lieber mistete sie den Pferdestall aus oder schnitt Gras für die Ziegen. Darüber war Regine oft unglücklich und sogar böse.
Die Hase-Rosa war klein, bucklig und, ähnlich wie die Gustel, der Frau Rat gegenüber oft schmeichlerisch, doch zu den Kindern war sie nett. Sie hielt immer Vögel, die frei in ihrem Zimmer umherfliegen durften. Seit Iso erfahren hatte, daß einer davon ein Gimpel war, bewunderte sie diese Vögel noch mehr. Im ›Buch der Lieder‹ hatte sie gelernt: »Du bist ja hold den Gimpeln und heilest Gimpelschmerz.« Demnach mußte ein Gimpel wohl eine Art Paradiesvogel sein.
Читать дальше