›Hier ruht mein treuer Mops,
auch oft genannt die Moppe,
er teilte meinen Lebensweg von –‹
Die Zahlen weiß ich nicht. Darunter kommt noch:
›Erhöhte mir die Freude,
erhellte mir das Leid
durch stete Freundlichkeit.‹«
Das gefiel Iso. Aber einen Mops wünschte sie sich nicht, lieber einen Foxel. Die Foxel waren munter und zum Spielen aufgelegt, zum Toben und sogar zum Rattenfangen. Hier gab es viele Ratten, denn im Nebenhaus war ein Lebensmittellager, von dort kamen sie. Mutter Regine und Friederike grausten sich vor ihnen, Iso stellte Fallen auf. Der Großvater versprach für jede erlegte Ratte zehn Pfennig.
Eines Tages erschien Schorschel. Er trug eine Uniform, die ihm recht gut stand, und brachte seine Frau mit. Er hatte, wie es jetzt im Krieg üblich geworden war, ganz schnell geheiratet, ehe er an die Front mußte. Zwar war er erst Assessor, aber heute konnte man nicht warten, bis alles komplett war: der Beruf und die Wohnung, die Ausstattung und was sonst noch zu einer standesgemäßen Hochzeit gehörte. Er strahlte vor Stolz und Liebe.
Heidi, seine Frau, war gleichaltrig mit ihm und bereits berufstätig. Sie war Krankengymnastin und Masseuse. Iso fand das großartig. Alles an Heidi war braun, die kurzgeschnittenen Haare – etwas ganz Neues –, die Haut, braun und glatt, als käme sie soeben von der See, und wie lachten ihre Augen! Die waren allerdings nicht braun, sondern grün, schilfgrün, und sie trug auch ein Kleid in dieser Farbe. Diese Augen ...
»So was hat man im Mittelalter verbrannt«, sagte der Großvater und lächelte in diese Augen hinein, »man verbrannte nicht nur alte, krumme, scheußliche Hexen, sondern erst recht junge, schöne ...«
Schorschel war allerdings nicht nur gekommen, um seine Heidi vorzustellen, sondern fragte an, ob man sie ›brauchen‹ könne. Es gebe so viele Verwundete hier und da sei vieles, was in ihr Fach schlage, und ob sie vielleicht auch im Doktorhaus wohnen dürfe ...
»Natürlich darf sie«, sagte Großmutter sofort, »gern, gern, Schorschel! Dann haben wir eine Tochter mehr.«
Es war ihr auch insofern lieb, daß Heidi zu ihnen zog, als Regine und Friederike sich zur Zeit nicht recht verstanden. An wem es lag, der älteren oder der jüngeren, war schwer zu entscheiden. Vielleicht ging es zu dritt besser als zu zweit.
Nun war die Jugend im Haus um eine Person vermehrt, und um was für eine muntere! Heidi freundete sich sofort mit Friederike an, ließ die kleine Christiane nach dem Bad turnen, betreute Großmutters Ischias und lief mit Regine spazieren, wenn sie es zeitlich einrichten konnte.
»Vielleicht denken die Leute, das ist mein Kind«, sagte sie lustig, wenn sie den Kinderwagen im Geschwindschritt durch’s Dorf schob. Nun, die Leute waren wohl besser informiert über die Familie des Doktors, aber Freunde gewann Heidi sofort und überall. Sie wußte schon bald, wer ihr da zunickte, sie hörte zu, wenn man ihr von Krankheiten und Geburten erzählte, sie erteilte Ratschläge und griff zu, wo zuzugreifen war. Auch der junge Mediziner, Heinrich, wie er genannt wurde, sah sie bewundernd an. Er hieß eigentlich gar nicht so. Eines Tages war von Christianes Kinderwagen ein Rad abgefallen – kein Wunder bei Heidis Tempo –, und die Kinderkutsche hing schief.
»Heinrich, der Wagen bricht!« rief Heidi, und der junge Mann stürzte herbei, um zu helfen. Seitdem wurde er Heinrich genannt, und er ließ sich’s gern gefallen. Trug doch einer der Prinzen den Namen Friedrich Heinrich. Der andere hieß Friedrich Wilhelm. Beide Prinzen, hochgewachsen, sehr schmal, überzüchtet, wurden im Dorf sehr verehrt. Sie besaßen das erste Auto in Camenz, einen offenen schwarzen Wagen.
»Halli, hallo!« machte die Hupe. Die Kinder sangen nach der Tonfolge:
Halli, hallo,
mich beißt ein Floh,
ich weiß nicht wo,
bald hie bald do.
Die letzte Zeile war aus Rücksicht auf Eltern und Großeltern geändert und entschärft worden, denn eigentlich lautete sie anders. Aber Wörter wie dieses, das hierher gehört hätte, durften die Geistkinder nicht aussprechen.
Eines abends traten die Eltern – Vater Martin war auf Urlaub da – nachts an die Betten der Kinder, ehe sie selbst schlafen gingen, und unterhielten sich halblaut. Regine zog Alexander die Zudecke zurecht und entwirrte dann Iso, die wie immer verwickelt und merkwürdig verdreht in ihrem Bettzeug lag.
»Nie liegt sie ausgestreckt wie ein vernünftiger Mensch, immer zusammengedreht und krumm. Und ich sag’ ihr jeden Abend, sie solle sich gerade auf den Rücken legen. Meinst du, daß sie krumm wird?«
»Verwachsen? Da sei Gott vor!« sagte Martin erschrocken. »Gibt es in eurer Familie Bucklige?«
»Ich wüßte keinen. Aber sie hat auch solche Hände, so schöne Hände, aber –«
»Weil Bucklige oft schöne Hände haben? Aber damit ist doch noch nicht gesagt –«
Iso schlief nicht. Sie tat nur so. Ein heißer Schreck fuhr ihr durchs Herz. Bucklig werden! Vielleicht fand Alexander sie so häßlich, weil man es schon merkte?
Im Dominium, das zum Schloß gehörte, gab es noch eine Bucklige, die Tochter des Verwalters. Sie war ein paar Jahre älter als Iso, nicht so klein wie die Hase-Rosa, aber auch sie war verwachsen. Sabine hieß sie, war freundlich und lachlustig und wurde allgemein Bine genannt. Obwohl Bine bei jedermann beliebt war, quälte sich Iso bei dem Gedanken, daß sie so werden könne wie Bine. Sie vergaß nie, was die Eltern gesagt hatten, versuchte jeden Abend, gerade auf dem Rücken liegend einzuschlafen, und wachte verkrümmt und zusammengerollt wieder auf. Niemand hatte eine Vorstellung davon, wie sie sich ängstigte und litt.
Es war überhaupt eine dunkle Zeit. Der Krieg wurde immer härter. Gasvergiftete Verwundete kamen ins Lazarett, übermüdete, kaputte, hoffnungslose Landser. Heidi wurde oft zwölf Stunden am Tag eingesetzt, um mit den Beinamputierten das Gehen zu üben, und kam erschöpft und todmüde heim. Friederike wurde von den Eltern nach langem Überlegen in ein Internat nach Gnadenfrei geschickt, es ging und ging nicht mit den beiden Schwestern. Und dann kam die Grippe.
Erst hieß sie die Spanische Grippe und dann Influenza. Es war erstaunlich, wie schnell auch auf dem Lande, wo es immer noch mehr zu essen gab als in der Stadt während der Steckrübenwinter, die Menschen geschwächt und schnell umgeworfen wurden. Viele starben. Die Ärzte, überfordert, versuchten der Krankheit Einhalt zu gebieten, aber auch in die Arzthäuser drang sie ein, diese neue Geißel Gottes. Im Haberlandschen Haus war es Iso, die am heftigsten von ihr befallen wurde. Sie fieberte hoch, phantasierte, behielt nichts bei sich und wurde von den schrecklichsten Träumen geplagt. Aber damals merkte sie, daß ihre Mutter Regine auch sie zu lieben schien. Einmal wachte sie auf und sah die Mutter an ihrem Bett sitzen und weinen.
»Was ist denn?« fragte sie erschrocken.
»Ach ich – ach Iso –«, die Mutter hielt inne. Iso war tief erschrocken. Nach einer Weile fragte sie halblaut, schüchtern, gewöhnt, als das kleine Dummerle angesehen zu werden: »Du, Mutter, wenn man jemanden küßt, der die Grippe hat, kriegt man sie dann selbst?«
»Das kann schon sein«, erwiderte die Mutter.
»Und der andere wird gesund? Man küßt sie ihm ab?« fragte Iso weiter.
»Ach nein, Isokind, leider nicht. Wie gern würde ich sie dir abküssen«, flüsterte die Mutter.
Das vergaß Iso nie. Mutter mußte wohl auch sie gern haben, nicht nur den hübschen, gescheiten älteren Bruder und das süße kleine Knuddelkind.
Auch Großmutter wurde krank. Großvater ging es schon eine Weile schlecht, doch er sprach nicht darüber, er gehörte zu den Ärzten, die die eigene Krankheit leugnen; er operierte noch mit neununddreißig Grad Fieber. Kurzum, es war eine Zeit voller Ängste.
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