Regine, auch überfordert, achtete wenig auf Iso, und so stand diese zu zeitig auf, angeblich, um der Mutter keine Mühe zu machen. Die Folge war ein übler Rückfall. Sie mußte wieder ins Bett, keiner hatte Zeit für sie, Alexander, vorläufig noch gesund, nützte die Zeit ohne Aufsicht und trieb sich im Dorf herum.
In den Zeitungen standen schlimme Dinge. Großvater, der viel über Politik sprach, erging sich in den düstersten Prophezeiungen. Er sollte recht behalten.
Iso lag in der ›Martinsklause‹, wie das Zimmer genannt wurde, in dem Martin gewohnt hatte, und war viel allein. Über ihrem Bett hing eine quadratmetergroße Deutschlandkarte, die Karte des Deutschen Reiches von damals, von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt. Unvergeßlich prägte sich ihr die Gestalt dieses Landes ein, die Zipfelmütze des schmalen Memellandes, die Verbindung Ostpreußens mit dem Reich, die dann sehr bald durch den polnischen Korridor unterbrochen werden sollte, Schlesien, herausragend in der Gestalt eines Eichenblattes, mit dem kleinen, viereckigen Auswuchs, der Grafschaft Glatz. Die Oder, ihre Nebenflüsse – Oppa, Zinna, Hotzenplotz – diese hatten sie in der Schule auswendig lernen müssen. Iso schaute und schaute, und wenn sie einschlief, sah sie noch immer das Land vor sich. Es war, als sollte sie Abschied nehmen und es sich deshalb noch einmal ganz fest einprägen, für immer, für ihr ganzes Leben. Deutschland und Schlesien, ihre Heimat.
Abschiednehmen tut weh. Iso weinte oft, aus Schwäche, aus Angst vor der Zukunft, in der sie sich bucklig sah, aus einem Gefühl der Verlassenheit heraus. Einmal fand Heidi sie so. Heidi, die ihr erstes Kind erwartete und dadurch noch stärker, noch positiver, noch zukunftsgläubiger war als sonst, setzte sich erschrocken und voller Mitleid an Isos Bett, nahm deren fieberheiße Hände in die ihren und lächelte in Isos Augen hinein.
»Iso, Isomädchen, wer wird denn weinen! Komm, sag mir, was los ist. Sag es mir. Du bist nicht allein.«
Ein Strom von Tränen. Aber bereits der tat wohl. Heidi ließ sie weinen.
»Ich hab’ so Angst ...«
»Wir jagen die Angst fort. Ich helf’ dir dabei. Was glaubst du, welche Angst die Verwundeten haben, daß sie wieder an die Front müssen oder geschädigt und nicht mehr voll arbeitsfähig entlassen werden! Grad heute las ich in einem zerfetzten Buch, das ein Soldat jahrelang im Tornister mitgeschleppt hatte, durch alle Schrecklichkeiten der Front:
Laß doch das Sorgen sein,
das gibt sich alles schon,
und fällt der Himmel ein,
kommt doch eine Lerche davon.
Es ist von Goethe. Glaub mir, auch damals gab es Gründe, Angst zu haben. Das gab es immer, in jedem Jahrhundert. Wir sind keine Ausnahme.«
»Ach Heidi, du – ja du! So schön, wie du bist! Aber ich – ich werde bucklig –« Jetzt war es heraus. Iso hatte es bis dahin niemals ausgesprochen.
»Du, bucklig? Wie kommst du denn auf die Idee?«
Nun endlich war die Schleuse geöffnet. Iso schluchzte und schluchzte. Und unter dem stoßweisen Weinen kam zutage, was sie ängstigte: Sie habe gehört, wie ihre Eltern sich unterhalten hätten, daß sie würde wie die Hase-Rosa oder wie die Bine, keiner würde sie liebhaben, nie würde sie heiraten und Kinder bekommen ...
Heidi ließ sie erst einmal alles herausweinen, ohne ihre Hände loszulassen. Als nichts mehr kam, legte sie ihr Gesicht an Isos Wange, ganz dicht, ganz nahe.
»Hör zu, Iso, ich erzähl’ dir was«, sagte sie leise. »Mir ist es ähnlich gegangen. Nicht, weil mir jemand prophezeit hat, was deine Eltern gesagt haben – sie sagten bestimmt nicht, du würdest verwachsen, sondern befürchteten es nur –, bei mir war es anders. Ich bin mal dumm gestürzt, ganz dumm, von einem Wagen herunter – und hab’ mir die Wirbelsäule verletzt. Ich mußte ein halbes Jahr in Gips liegen. Ich sag’ dir, das war eine Qual. Und niemand weit und breit konnte mir sagen, ob ich mich wieder würde bewegen können wie vorher. In diesem halben Jahr hab’ ich gelernt, trotzdem zu hoffen, zu beten, nicht aufzugeben. Und als ich aus dem Gips herauskam und Übungen machen mußte, die mir sehr, sehr schwerfielen, da hab’ ich gelernt zu wollen. Und wenn man beten und hoffen und wollen gelernt hat, so schwer es einem auch fällt, dann hat man schon gewonnen. Willst du es versuchen?«
»O Heidi!«
»Sieh mal, ich bin den ganzen Tag mit Männern zusammen, die verletzt sind. Die meisten von ihnen wissen nicht, ob sie wieder gesund werden. Da ist mancher, der aufgeben möchte. Immer, immer muß ich dagegenhalten, trösten, ermutigen. Es gibt eine chinesische Geschichte, da jammert ein Mann, weil er keine Schuhe hat. Und dann trifft er einen, der hat keine Füße.
Du hast noch alles, Isokind, was man zum Leben braucht, und sollte sich wirklich herausstellen, daß du eine Neigung hast, nicht ganz gerade zu wachsen – ich sage: sollte; ich selbst glaube es nicht, und ein bißchen von diesem Handwerk verstehe ich ja auch –, dann kann man mit Hoffen und Wollen viel erreichen. Viel? Alles! Berge versetzen. Glaubst du mir das?«
Iso sah sie an, die geliebte und bewunderte Freundin. Frisch und jung, stark und gläubig saß sie da auf dem Bettrand, leuchtend und schön. Iso wußte, daß sie ein Kind erwartete, sie hörte sie früh im Bad röcheln und würgen. Wenn sie herauskam, wischte sie sich Augen, Mund und Nase und lachte: ›So, das hätten wir wieder mal!‹ Und ihre warmen, trockenen, starken Hände taten so wohl.
»Ich will werden wie du, Heidi«, sagte Iso voller Begeisterung. Heidi lachte und gab ihr einen Kuß auf die Nasenspitze.
Eines Tages kam der Großvater von einem Krankenbesuch zurück und brachte einen Hund mit, einen halberwachsenen, schwarzweißen, sehr schmutzigen Foxterrier.
»Da, zum Rattenfangen«, sagte er und ließ ihn in die Eßstube springen. Der kleine Hund lief zielbewußt auf die Großmutter zu und sprang mit einem Satz auf ihren Schoß. Dort blieb er sitzen, an sie gekuschelt, und hob das Schnäuzchen zu ihr empor.
»Ach lieber Gott, du kleines Kerlchen!« sagte sie und lächelte ihn an. Sie machte sich nicht viel aus Hunden, aber alle Hunde liebten sie. Immer liefen sie sofort zu ihr, wenn Dr. Haberland einen anbrachte.
Im Doktorhaus hatte es immer Hunde gegeben, meist größere wie Hektor und Nimrod und Loki. Einer hieß Fafnir, schon als sie ihn bekamen, und der Großvater rief ihn auf gut schlesisch ›Nirdel‹, was Großmutter nicht sehr passend fand.
»Nirdel – wenn du das auf der Straße rufst!« sagte sie leicht entrüstet. »Entweder die Leute denken an einen Nierenbraten oder an eine Operation.«
Iso kannte alle Geschichten, die Großmutter von früheren Hunden erzählte. Wie die Hunde den heimkehrenden Doktor begrüßten, wie Loki, wenn Großvater »Potschen!« rief, sogleich ins Schlafzimmer schoß und die warmen Hausschuhe holte, einen nach dem andern, und dem Herrchen brachte. Großvater war gut Freund mit den Hunden, verwöhnte sie aber, statt sie zu erziehen. Bei Tisch stellte er, wenn er satt war, seinen Teller mit den Resten auf die Erde, und der jeweilige Hund fraß ihn leer. Er als Arzt!
»Jesses, Rudolf, das kannst du doch nicht machen!« schalt die Großmutter und gab der hereinkommenden Marie einen Wink, diesen Teller nachher extra und doppelt abzuwaschen.
»Jesses, Rudolf!« hörten die Kinder manchmal. Es war Großmutters halb resignierter, halb amüsierter Ruf, nie klang er aggressiv, immer irgendwie verdeckt zärtlich. Auch der Großvater hatte einen Standardseufzer, der aber klang oft verzweifelt, vor allem wenn er die Zeitung gelesen hatte und sie fortwarf. »Ach Jerusalem!«
Als Iso aus der Schule kam, stürzte sie sich sogleich auf den Hund.
»Gehört er uns?« juchzte sie entzückt. »Wie heißt er denn?«
»Schuftel«, sagte Großmutter.
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