Martin lachte, zog sie im Dämmerlicht des Brauertors, durch das sie jetzt gehen mußten, an sich und drückte ihr schnell einen Kuß auf den Mund, den allerersten. Regine wurde rot vor Freude und Geniertheit.
Auf der anderen Seite der Brücke stand der heilige Nepomuk, kenntlich am Strahlenkranz, den er immer ums Haupt trägt. Dann kam man auf den großen Kirchplatz, wo die alte Kirche steht. Regine zog Martin gleich hinein. Sie liebte, wie jeder in der Familie, diese Kirche über alles. Flüsternd erzählte sie Martin all das, was sich hier zugetragen hatte. Und ging mit ihm, eng eingehakt, von einem Heiligenbild zum andern.
Schlesien ist reich an Barockkirchen, diese aber ist besonders schön. Ein verständnisvoller Geistlicher hatte alles Bunte daraus verbannt und die Figuren in Weiß und Gold gehalten. Da gab es Heilige, die durch ihr Martyrium berühmt geworden waren: einer trug seinen abgeschlagenen Kopf auf einem Buch vor sich her, ein anderer drehte sich mit einem merkwürdigen Instrument den Darm aus dem aufgeschlitzten Bauch.
»Den mußte ich als Kind immer ansehen, es gruselte mich dann so schön«, flüsterte Regine. Die Kanzel hatte ein Dach, auf dem eine Leiter stand, die Jakobsleiter, und auf dieser stiegen kleine steinerne Engel, dikke, überernährte Putten, auf und nieder.
»Der Alte Fritz war oft hier, er war mit dem Abt befreundet«, erzählte Regine eifrig, »einmal fragte er ihn, warum die Engel denn eine Leiter brauchten. Sie hätten doch Flügel. ›Ja, Majestät‹, antwortete der Abt – er hieß Tobias Stusche – ›sie waren damals wahrscheinlich gerade in der Mauser!‹«
An einer der dunklen Bänke aus Holz stand:
»Hier stand und sang Friedrich, der Zweite, der Große, als Mönch verkleidet, während die Österreicher die Kirche nach ihm durchsuchten.« Der Abt hatte ihn schnell in eine Kutte gesteckt und mit den Mönchen in die Kirche ziehen lassen. Wie anders wäre die Geschichte verlaufen, wenn er nicht diese rettende Idee gehabt hätte! Den Adjutanten fanden die Feinde hinter dem Hochaltar. Er hieß von Glasenapp.
»Und draußen an der Prälatur, das sind solche Pfeiler mit kleinen Bänken, dort hat er gesessen und Flöte gespielt.«
»Du kanntest ihn wohl persönlich?« fragte Martin lächelnd.
»Ich glaub’ fast, jedenfalls beinah«, ereiferte sich Regine, »und nachher gehen wir an einem Maulbeerbaum vorbei, den hat er noch gepflanzt oder pflanzen lassen –«, schränkte sie ein. »Er hat die Seidenraupenzucht hier eingeführt.«
Sie gingen über die Himmelbrücke in den Park hinein und stiegen die Terrassen hinauf zum Schloß. Die schön gepflegten Wege schwangen auseinander und wieder zusammen, Bronzefiguren zierten kleine Wasserbecken. Hier ein Knabe mit einem Delphin, dort einer mit einer Schildkröte. Und jetzt der große Platz vor dem Schloß, mitten darauf ein Wasserbecken, auf dessen Rand steinerne Frösche hockten. Laubengänge und verschwiegene Bänke, fast verhüllt, auf stille Besucher wartend. Treppen, die man leicht und beschwingt emporging, der Blick vom Schloß über das Dorf bis zu den Bergen hinüber, die duftblau am Horizont standen. Rings um das Schloß führte ein Weg zum Rosengarten und zur Siegessäule. Martin und Regine schwiegen miteinander, Worte wären zuviel gewesen. Hier sollten einmal ihre Kinder und Enkel gehen, wenn Gott ihnen das gewähren wollte. Martin hatte einen sehr guten Arbeitsvertrag erhalten, den hatte er abgewartet, ehe er Regines Eltern offiziell um die Hand ihrer Tochter bat. Er erzählte jetzt davon, und Regine versteckte ihr Gesicht an seiner Schulter.
Am Sonntag fand das Festessen statt. Der Tisch war aufs schönste geschmückt, Silber und Kristall glänzten, und der Vater hielt eine Rede, zu der er sich erhob. Regine sah vor Verlegenheit in ihren Schoß, Martin entgegnete mit Wärme und Anstand. Kaum hatte er geendet, als es klopfte und Marie, die diesjährige Küchenfee, mit einem Telegramm hereinkam.
»Ich sullts halt glei abgeba, hot er gesaot«, murmelte sie entschuldigend. Der Vater nahm es ihr ab. Aber es war an Martin gerichtet. Martin entfaltete es – las es für sich und dann halblaut vor. Sein Vater war gestorben.
Alle schwiegen.
Später hieß es, dies sei geschehen, weil es dem alten Herrn das Herz gebrochen habe, daß Martin eine Katholikin heiraten wollte. So erzählte man es in Martins Verwandtschaft. Jetzt war davon noch keine Rede.
»Da mußt du wohl gleich wieder fort?« flüsterte Regine, nachdem alle Martin ihr Beileid ausgesprochen hatten. Sie weinte. Martin legte seine Hand auf die ihre.
Die Mutter sprach dann ein paar freundliche Worte. Niemand hatte von ihr eine Tischrede erwartet, aber es tat gut zu hören, wie sie mit dem Herzen mitfühlte. Der Vater stand auf und holte das Kursbuch. Zum Glück ging der nächste Zug erst am Abend.
»Wir können also noch in Ruhe beieinandersitzen bis dahin«, sagte Martin, »laßt euch den schönen Tag nicht verderben.«
Sie gaben sich alle Mühe, einer wie der andere. Regine hatte ihre Kochkünste zeigen wollen und sozusagen künstliche Eier zubereitet. Es waren zwar richtige Hühnereier, aber ausgeblasen und mit einer cremigen Mayonnaise gefüllt. Nun achtete niemand darauf, nur der Vater sagte grimmig, als er das dritte aufschlug: »Wieder eins ohne Dotter!«
Da mußten alle lachen, und der Bann war gebrochen. Beim Kaffee danach wurde schon wieder munter geschwatzt; es wurden Pläne gemacht für die Hochzeit im Mai, es wurde auch gelacht, obwohl man sich dessen ein bißchen schämte. Regine zeigte sich tapfer der raschen Trennung gegenüber, sie tröstete sich damit, daß Martin im Mai nicht ohne sie abfahren würde. Trotz allen Kummers war es ein harmonischer Nachmittag, und Martin fuhr freundlich winkend ab, nachdem er Regine nun richtig und liebend geküßt hatte.
»Jetzt dürfen wir es ja«, sagte er leise, als er merkte, daß Regine verschämt nach dem Bahnbeamten guckte, der mit seiner roten Mütze auf dem Kopf darauf wartete, das Zeichen zur Abfahrt des Zuges zu geben. Er war ein Patient ihres Vaters und kannte sie natürlich. Aber die Verlobung war im Dorf längst bekannt.
»Wie isses denn, richtig verlobt zu sein? Ich meine, so wie du, mit Ring und rumgeschickten Anzeigen und so«, fragte Lore Dempe eines Tages. Sie saßen im Laden, der geschlossen war. Sie hatten noch kein Licht gemacht. Die ›aahle Dempen‹ saß hinter der Kasse, Regine und Lore hockten an der Seite, je auf einem Sack. Die Säcke mit ungebranntem Kaffee, mit Erbsen und Linsen lehnten am Ladentisch. Vorhin war jemand mit einem Brett oder einem Stock an der heruntergelassenen Jalousie entlanggefahren. Das hatte ein schnarrendes Geräusch gegeben – da waren alle drei vor Schreck hochgefahren.
»O diese bösen Bubenhände«, seufzte Frau Dempe. Friederike kroch in den Winkeln des Ladens herum.
»Schön, aber auch nicht schön«, sagte Regine. »Wenn er schreibt, ist’s schön, aber sonst wartet man nur. Und wenn ich denke, ich warte ja darauf, daß ich hier fortmuß, – dann ist es noch schlimmer.«
»Ja, da hab’ ich es besser«, sagte Lore, »ich brauch’ nicht fort. Josef übernimmt den Laden hier.«
Josef Kirchner, ihr Verehrer, war Kaufmann.
Natürlich wußte man im Doktorhaus darüber Bescheid, aber Vater hatte sofort gesagt: »Na, der liebt den Laden und nicht die Lore.«
Regine fand es gräßlich, so zu denken. Und doch verglich sie gleichzeitig in Gedanken Josef mit ihrem Martin. Da tat ihr die Freundin leid. Sie war erleichtert, als Friederike, die sich langweilte, jetzt anfing zu quengeln. Sie wollte nach Hause.
»Bringst du uns noch ein Stück?« fragte sie Lore. Untergehakt bummelten sie die Dorfstraße hinunter.
Es war ein lauer Abend. Sie gingen mitten auf der Straße. Auf dem Fußgängersteg kam ihnen eine kleine Gestalt entgegen, die Gustel, wie sie errieten. Sie ging mit eiligen Schritten, den Kopf vorgebeugt, am Staketenzaun entlang und rannte gegen den Lichtmast, der seit einiger Zeit hier stand. Auch auf die Dörfer kam jetzt Elektrizität, was vor allem Regines Vater sehr freute.
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