Aber Arsène fehlte.
In der L'Auto-Ausgabe dieses Tages war nicht einmal seine Gesamtzeit vermerkt. Tatsächlich war er nicht einmal in Rambouillet (48 km vor der Ziellinie) und in Versailles (13 km) registriert. In Ville d'Avray hatte er kein Schild ausgehändigt bekommen, und er hatte auch keine Ehrenrunde vor einer jubelnden, begeisterten Menge gedreht.
Ich fragte mich, ob er einfach seine Sachen gepackt hatte und nach Hause gefahren war oder ob ihm die Ehrenrunden sinnlos vorgekommen waren, weshalb er sich gleich auf den Weg zum Au Reveil Matin gemacht hatte, wo er drei Wochen zuvor aufgebrochen war, um sich eine üppige Mahlzeit und ein Fässchen Wein zu gönnen. Schließlich wurde er in zeitgenössischen Berichten weniger wegen seiner radsportlichen Leistungen erwähnt als wegen seines Hangs, gut zu speisen.
Nachdem ich die Versuchung überwunden hatte, den Mikrofilm einfach zurückzuspulen und niemandem von dem furchtbaren Geheimnis zu berichten, das ich aufgespürt hatte – am allerwenigsten Thierry –, saß ich einige Minuten lang da und überdachte diese überraschende Wendung und meine Jagd nach Arsène im Allgemeinen. Im Großen und Ganzen überraschte es mich nicht, dass die wahre Identität des ersten Mannes, der als Letzter durchs Ziel gegangen war, irgendwann in Vergessenheit geraten und der Titel einer falschen Person zugeordnet worden war. Eine der Schwierigkeiten, die sich beim Erforschen der Frühgeschichte der Tour stellen, besteht darin, dass die Organisatoren 1940 aus Angst vor den Nazis ihr Archiv zur Sicherheit mit dem Zug nach Südfrankreich transportiert hatten – wo es ironischerweise bei einem Brand völlig zerstört wurde. Zwar hatten sicherlich schon Hunderte die öffentlichen Mikrofilme eingesehen, um Nachforschungen über die Tour zu betreiben, aber wie viele davon hatten sich mit dem hinteren Ende der Gesamtwertung beschäftigt? Nach diesen Quellen sah es so aus, als wäre Arsène gar nicht der erste Träger der lanterne rouge gewesen.5
Das ernüchterte mich auf einen Schlag. Mein grand projet, in dem es in gewissem Sinne um Fehlschläge gehen sollte, begann selbst mit einem grandiosen Fehlschlag. Wieso hatte ich die Karriere dieses Niemands ausgegraben, anstatt mich mit dem armen Émile Moulin zu beschäftigen, dem letzten Teilnehmer, für den in der L'Auto-Ausgabe zum Abschluss der Tour eine Gesamtzeit vermerkt war? Ich kam mir vor wie ein verrückter Pirat, der versucht, den Nebel am Besanmast festzunageln. Musste ich jetzt wieder von vorn anfangen, aber diesmal mit Émile? Vielleicht hätte ich nicht versuchen sollen, einen Mann gegenüber dem anderen herauszustreichen, der möglicherweise genauso verdienstvoll war. Vielleicht hätte ich einfach alle in der Vergessenheit belassen und stattdessen zu ihren Ehren ein Grabmal des unbekannten Radfahrers errichten sollen.
Eine nach der anderen überprüfte ich die restlichen »bekannten« Leistungen Arsènes, die von ihm selbst im Miroir Sprint aufgeführt waren, anhand von anderen Quellen. Dabei stellte ich schnell fest, dass er nicht nur in der Presse ebenso schwer fassbar war wie Houdini, sondern auch einen äußerst unzuverlässigen Zeugen für sein eigenes Leben abgab. Die Nr. 28 beim ersten Rennen Bordeaux– Paris war nicht Millochau, sondern jemand mit dem Namen Pierry Tardy. Er stand auch nicht auf den Startlisten für die erste Tour Paris–Brest–Paris (PBP) oder die erste Paris–Roubaix. Vielleicht hat er 1890 wirklich den Rekord für die Strecke Paris–Amsterdam gebrochen (der ebenfalls im Miroir Sprint erwähnt worden war), aber das konnte ich nicht bestätigen. Keine von Arsènes Behauptungen schien der Wirklichkeit zu entsprechen, und es sah gar nicht gut für ihn aus, bis ich mich zur nächsten PBP im Jahr 1901 vorarbeitete, um mich zu vergewissern. Dort stand sein Name tatsächlich auf der Startliste. Noch ermutigender war jedoch die Tatsache, dass er auch auf der Liste der Finalisten zu finden war, und zwar auf einem sehr respektablen 47. Platz.
Die Zeit, die ich für meine Recherchen in Paris hatte, war damit abgelaufen. Ich war hierher gekommen, um meine Geschichte zu untermauern, aber als ich ging, wusste ich weniger als zuvor. Ich hatte das Skelett zwar mit etwas Fleisch angereichert, aber ich war mir nicht mehr sicher, ob es wirklich das richtige Skelett war. Arsène fehlte am Schluss der Tour, und außer einer anderen bestätigten Sichtung hatten sich die Anekdoten, über die ich verfügte, als falsch erwiesen. Die journalistischen Aufzeichnungen waren schludrig, und der Star selbst bestenfalls ein Geschichtenerzähler, wenn nicht gar ein Scharlatan oder Spinner.
Zurück in Großbritannien verlegte ich mich wieder darauf, im Internet zu recherchieren – in Foren, auf Websites zur Sportgeschichte und bei den anderen üblichen Verdächtigen –, aber es kam mir sinnlos vor. Welche Hilfe können Sekundärquellen schon bieten, wenn die Primärquellen lückenhaft waren? Ich brauchte einen Spezialisten, um mir ein Bild von dem machen zu können, was in jenen Jahren wirklich vor sich gegangen war. Als Retter in der Not trat der Franzose Pierrot Picq auf, ein Tour-Historiker, der sich sehr intensiv mit der ersten Tour beschäftigt hatte. Arsène, so erzählte er mir, hatte die Tour durchaus zum Abschluss gebracht, aber es nicht geschafft, die Ziellinie vor Redaktionsschluss zu überqueren.
Damit wurden auch plötzlich die Lücken in den Berichten über Arsènes Beteiligung an einzelnen Etappen verständlich: Alle waren an der Spitzengruppe interessiert, und bei einer täglich erscheinenden Zeitung war es nicht möglich, auf die langsamen Radler zu warten. Hätte ich die Ausgabe des nächsten Tages einsehen können, so hätte ich dort Arsènes Zeit für die letzte Etappe schwarz auf weiß gefunden (dabei war er übrigens nicht der Letzte) und damit seine Letztplatzierung in der Gesamtwertung bestätigt.
Millochau hatte für sich die Ehre in Anspruch genommen, der Erste gewesen zu sein, der als Letzter durchs Ziel ging. Ich für meinen Teil war erleichtert, dass meine ganze Arbeit nicht umsonst gewesen war. Es wäre mir grausam vorgekommen, diesem Mann die einzige Auszeichnung wegzunehmen, die ihm geblieben war. Auf eigenartige Weise war ich sogar stolz auf ihn.
Picq half mir auch, die Lücken in Arsènes Rennsportkarriere und der Liste seiner Auszeichnungen zu füllen. Er nannte Arsène »einen der Pioniere des Radsports, sowohl auf der Straße als auch auf der Rennbahn«, und nannte mir einige seiner Rennergebnisse:
1895 |
Bordeaux–Paris |
Platz 9 |
1896 |
Bordeaux–Paris |
Platz 13 |
1897 |
Paris–Roubaix |
Platz 24 |
|
Bordeaux–Paris |
Platz 5 |
|
Bol d'Or (ein prestigeträchtiges24-Stunden-Steherrennen) |
Platz 4 |
1902 |
Marseille–Paris |
Platz 13 |
Viel später, nämlich im Jahr 1921, kam er beim Rennen Paris–Brest– Paris auf Platz 34, und im darauf folgenden Jahr trat er bei der Tour Bordeaux–Paris an, gab aber schließlich auf. Er war 55 Jahre alt.
Alles in allem nicht schlecht für einen Verlierer. Angesichts der Tatsache, dass er erst ein halbes Jahrhundert nach den fraglichen Ereignissen mit dem Miroir Sprint sprach, ist es auch verständlich, dass er sich bei einigen Daten geirrt hat. Man kann aber unmöglich ignorieren, wie weit er hinter dem Sieger zurücklag: Bei der Tour de France 1903 war er fast 65 Stunden länger unterwegs als Garin. Das ist allerdings noch nicht der Rekord: Antoine de Flotière, lanterne rouge von 1904, brauchte unglaubliche 100 Stunden und 28 Minuten (und 52 Sekunden) länger als der schnellste Fahrer, und das auf genau derselben Strecke wie bei Millochau. Vier weitere rote Laternen in den 1910er und 1920er Jahren lagen ebenfalls 65 Stunden oder mehr zurück.6 65 Stunden sind eine lange Zeit: Ein Profi der heutigen Zeit fährt fast die gesamte Tour de France in dieser Zeit. Maurice Garin ließ in seiner Geschwindigkeit nicht nach. (Sein Abstand zum Zweitplatzierten von fast drei Stunden ist der größte, den es jemals gab.) Er war so schnell, dass er beinahe Géo Lefèvre überholte, den rasenden Reporter von L'Auto. Lefèvre, Kampfrichter und Zeitnehmer, konnte seine Rolle bei der ersten Etappe schon nicht richtig wahrnehmen. Als sein Zug zum Ende der ersten Etappe in Lyon eintraf, ließ sich Garin schon sein Frühstück schmecken. Millochaus Durchschnittsgeschwindigkeit lag etwa 11 km/h unter der von Garin.7
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