Ein oder zwei Mal verschwindet er aus den offiziellen Klassifizierungen, nur um am nächsten Tag auf wunderbare Weise wieder aufzutauchen. Ich vermute, dass das nur auf Nachlässigkeit oder ein verständliches Desinteresse am hinteren Teil des Feldes zurückzuführen ist. Außer der offiziellen Eintragung seines Namens an den Kontrollpunkten wird er in L'Auto während der gesamten Tour nur ein einziges Mal erwähnt, nämlich in Orléans, 155 km vor Paris: »9.50 Uhr morgens, Millochau, sehr frisch. Er speist.«
Er fällt zurück, und er speist. Das war alles? Ich fürchte, ja. Jeder Hinz und Kunz kann zurückfallen und etwas essen, aber zwischen diesen beiden Erwähnungen hatte dieser Mann 2200 km auf dem Fahrrad zurückgelegt, um als einer von nur 21 Männern zum ersten Mal eine Radrundfahrt durch Frankreich zu absolvieren. Und alles, was den Reportern einfiel, war zu sagen, dass er speiste?
An dieser Stelle musste ich Arsène eines Abends zurücklassen: Er speiste, und ich wurde vor die Tür gesetzt, weil die Bibliothek schloss. Ich war frustriert, weil ich einem sowohl praktischen als auch philosophischen Problem gegenüberstand: Wie sollte ich die Geschichte der Letzten dieses Rennens schreiben? Es ist zwar offensichtlich, aber Rennen verlaufen nun mal in nur einer Richtung. Sie sind teleologisch und zielorientiert: Jeder versucht, an die Spitze zu kommen. Die Aufmerksamkeit der Fahrer, der Organisatoren, der Fans und der Medien konzentriert sich auf diese Spitze, und für das, was am anderen Ende geschieht, interessiert sich kaum jemand. Was dort abläuft, geht höchstwahrscheinlich verloren. Um die Sache doppelt schwierig zu machen, kam noch der zeitliche Abstand hinzu: Die lange Zeit von 1903 bis heute, die alles verschlingenden Nebel der Zeit sowie schlechte Geschichtsschreiber haben schon den Sieger zu einer fast vergessenen Figur gemacht – ganz zu schweigen von einem Außenseiter wie dem Letztplatzierten.
Ich zog mich in eine Pariser Bar am Ufer eines der Kanäle zurück, wo mir einige Biere dabei halfen, meine pseudophilosophischen Zweifel zu ersticken. Dann fuhr ich mit meinem vélib – einem Leihfahrrad – zurück zu meiner Unterkunft. An einer roten Ampel in der Rue de Charonne schaute ich zum 473sten Mal in den Posteingang auf einem Handy. Und da waren sie: zwei E-Mails, die eine von Millochaus Urgroßneffen, die andere von einem Tour-Historiker, an die ein Scan eines Artikels aus dem Miroir Sprint vom Jahr 1947 angehängt war. Der Artikel war mit zwei Fotos von Arsène Florentin Millochau illustriert, der fit und gesund obschon betagt immer noch Fahrräder reparierte, und zwar – und das ist die reine Wahrheit – ausgerechnet in der Rue de Charonne. Auf dem ersten Bild trug er eine Arbeitsjacke und eine Schildmütze wie ein Busschaffner und fuhr auf einem Stadtfahrrad mit geradem Lenker durch die Straßen. »Immer noch munter und mit einem Lächeln bevorzugt ›Papa‹ Millochau sein Rad gegenüber der Métro«, schrieb launig der Miroir Sprint und schaffte es damit, den legendären Tour-Finalisten wie einen durchschnittlichen Pendler erscheinen zu lassen. Das zweite Bild zeigte Arsène, einen fast gnomenhaft kleinen Mann, in seiner Küche, die gleichzeitig als Werkstatt herhalten musste. Die Wände waren mit alten Fahrradteilen, vergilbenden Fotografien, Werbeanzeigen und Rennnummern geschmückt, darunter der von seiner Tour 1903. Dazu kam der Kurbelsatz, den er bei dem allerersten Rennen Bordeaux–Paris verwendet hat. Er untersuchte gerade ein Kettenblatt, das in einen Schraubstock eingespannt war, und sah dabei aus wie ein Anhänger der Zurechthämmern-und-beten-Methode der Fahrradreparatur. Und warum auch nicht? Diese Vorgehensweise wird wohl niemals aus der Mode kommen und war wahrscheinlich genau die richtige, als ein schweres Rad ohne Schaltung mehr als 20 Stunden hintereinander über unbefestigte Wege fahren musste. Diese harten Erfahrungen waren es, die ihn spotten ließen: »Le Tour d'aujourd'hui? Une simple randonnée.« Die Tour von heute? Ein Spaziergang im Park!
Für seine weiteren Leistungen war Emile Toulouse, der Reporter des Miroir Sprint, ganz Ohr. »Denken Sie nur einmal: Mein Rad wog 33 kg2«, erzählte Millochau von der ersten Tour Bordeaux–Paris, in der er den 28sten Platz erreichte (zurückgehalten wahrscheinlich von seinem äußerst schweren Fahrrad), »ich hatte mich für alle Eventualitäten vorbereitet und mehrere Ersatzteile mitgeführt.« Danach, so fuhr Arsène fort, war er am Start der ersten Paris–Brest–Paris und später bei der ersten Paris–Roubaix im Jahre 1895. Wenn Sie seine Teilnahme an der ersten Tour de France um diese drei Rennen ergänzen – die immer noch unzweifelhaft zu den Klassikern und den prestigeträchtigsten Veranstaltungen ihrer Art zählen –, wirkt Arsène plötzlich nicht mehr wie ein unfähiger Nachzügler, sondern wie ein Vorläufer der Radrennsportler, ein Pionier, der an den meisten wichtigen Veranstaltungen in der Frühzeit des Straßenradsports teilnahm.
Um Millochau als Menschen kennenzulernen, stöberte ich über eine französische Website zur Ahnenforschung seinen Urgroßneffen Thierry auf. Wie Arsène war auch Thierry gern dazu bereit, Geschichten zu erzählen. In seiner E-Mail schrieb er:
Onkel Arsène war ein Familienmensch. Was ich von ihm weiß, haben mir enge Verwandte erzählt, die ihn noch selbst kannten. Vor allem meine Großmutter hatte zartfühlende Erinnerungen an ihn. Sie spricht von ihm als von einem gut aussehenden, sportlichen Mann, einem Verführer, der noch lange nach dem Ende seiner Sportlerkarriere von den Damen geschätzt wurde.
[...]
Arsène stammte aus einer Familie mit elf Kindern, die wir alle noch kennen. Louis, einer seiner Brüder, ist mein direkter Vorfahr. Arsène war zweimal verheiratet. In der Familie wird erzählt, dass er in seiner Jugend oft lange unterwegs war, um allein auf den Straßen zu trainieren. Außerdem erfand er mechanische Bauteile, die er für die jeweiligen Radrennen anpasste. (Mehr weiß ich darüber jedoch nicht.)
Seine Teilnahme an der Tour war – zumindest aus der Sicht unserer Familie – ein Unternehmen, das alles andere als ein Fehlschlag war. Er war selbst sehr stolz darauf und keineswegs so zynisch wie die heutigen Sportler. Am Ende seiner Sportlerkarriere blieb er seiner Leidenschaft treu, indem er ein Fahrradgeschäft in Paris eröffnete.
Ich erinnere mich noch daran, dass ich als Kind einen Zeitungsausschnitt gesehen habe, der sein Geschäft zeigt. In meinen Erinnerungen ist er ein freundlicher, unabhängiger und hart arbeitender Mensch.
Ich schickte Thierry den Ausschnitt aus dem Miror Sprint, um seine Kindheitserinnerungen wieder wachzurütteln.
Die E-Mails hatten mir wieder Auftrieb gegeben, sodass ich am nächsten Morgen in die Bibliothek zurückkehrte, bereit dazu, Arsène nach Paris und im Triumph über die Ziellinie zu folgen. In der L'Auto-Ausgabe vom Tag nach der letzten Etappe ist Desgrange, ebenso wie ich, in der Stimmung für Superlative. Seine Fahrer haben ...
[...] die steilsten Berge, die kältesten und dunkelsten Nächte, die heftigsten und grausamsten Stürme, die ungerechtesten Unglücksfälle in großer Zahl, die längsten Straßen, die endlosen Hügel überwunden ... nichts konnte den eisernen Willen dieser Männer brechen. Heißt das, dass jeder, der gestartet ist, auch das Ziel erreicht hat? Nein. Aber es ist jetzt angebracht, sowohl Sieger als auch Besiegten Beifall zu zollen und mit unseren Gedanken bei denen zu sein, die es nicht bis zum Ende geschafft haben.3
Am letzten Kontrollpunkt in Ville d'Avray, nur wenige Kilometer vom Velodrome Parc des Princes entfernt, in dem das feierlicheEnde stattfinden sollte, traf Garin als Erster ein, was ihm den Gewinn sicherte. Dort wurde allen Fahrern ein Schild mit der darauf gemalten Gesamtzeit ausgehändigt, mit dem sie dann ohne Zeitdruck zum Velodrom fahren sollten. In den ersten Tagen war es üblich, dass Straßenrennen auf einer solchen Rennbahn endeten, zum Beispiel die Tour Bordeaux–Paris in der Porte Maillot oder die Paris–Roubaix, durch die das Velodrome in Roubaix einen legendären Ruf erwarb. Der Grund dafür lag zum Teil darin, dass diese Ereignisse große Menschenmengen anlockten, durch die die Besitzer der Rennbahn ein erhebliches Plus an Einnahmen aus den Eintrittsgeldern kassieren konnten.4 Am 19. Juli 1903 gab es ein Programm, zu dem unter anderem ein 100-km-Steherrennen und die französischen Geschwindigkeitsmeisterschaften gehörten, um die Zuschauer vor dem Eintreffen der Tourteilnehmer in Stimmung zu bringen. Danach wurden die Fahrer, die sich inzwischen frisch gemacht hatten, in der Reihenfolge des Zieleingangs auf die Rennbahn gelassen, wo sie die Schilder mit ihrer in Avray genommenen Zeit vorzeigten und einige Ehrenrunden drehten.
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