Hinter den Pyrenäen brach für Verstraeten die Welt zusammen, als das Gerücht aufkam, er hätte in der Normandie den Zug genommen. Ein Tag verging, ohne dass weitere Indizien dafür ans Licht gekommen wären, aber dann wurde Verstraeten disqualifiziert, nachdem er dabei gesehen wurde, wie er sich in der Nähe von Montpellier an der Schulter eines Motorradfahrers festhielt. Desgrange untersuchte die Vorfälle. Für die Eisenbahngeschichte fand er keinerlei Beweise, aber der Zwischenfall mit dem Motorrad schien unbestreitbar zu sein. Allerdings hörte man im belgischen Lager Protestgemurmel. »Die wollten ihn aus der Kategorie B ausschließen, weil er zu gut fuhr«, behauptete der belgische Manager Karel Steyaert.
Nach Verstraetens Ausscheiden war Jules der einzige nicht gesponserte Fahrer – »der Letzte der Römer« –, und die Berichterstattung über ihn wurde täglich ausgiebiger und herzlicher, selbst als sich die Fahrer immer mehr Abschürfungen, Hämorrhoiden, Ausschläge und Schwellungen zuzogen. Die Organisatoren erkannten die Publikumswirksamkeit eines einzigen Überlebenden und schenkten Jules besondere Beachtung. Vor den Alpen war Jules die Nr. 12 von 13 Fahrern, einen Platz vor dem Schlusslicht Paul Duboc, einem Apfelhändler aus der Normandie. Allerdings hatte sich Duboc eine Zeitstrafe eingehandelt, weil er ein unzulässiges Getränk angenommen hatte. Ohne sie hätte er eine halbe Stunde vor Nempon gelegen. Beide überstanden die Alpen. Danach gelangte das kleine Peloton auf die Kopfsteinpflaster des nördlichen Frankreich, in die neutrale Zone und auf die ehemaligen Schlachtfelder. Jules hielt durch, und endlich hatten die rescapés – ein Begriff, der in jener Zeit häufig verwendet wurde und »Überlebende« bedeutet – nur noch die 340 km von Dünkirchen zurück nach Paris vor sich. Diese Etappe führte durch Nempons Heimatstadt Calais. Auf den Straßen rund um Calais wurde ihm ein gewaltiger Empfang bereitet, und Henri Desgrange persönlich begleitete ihn durch diese Etappe.12 Historiker berichten, dass er ihm vom offiziellen Auto des Rennleiters aus fast den ganzen Weg von Dünkirchen zum Parc des Princes applaudierte. Es war in vieler Hinsicht ein Triumph.
Nempon schloss das Rennen sowohl als Letzter als auch als Erster ab: Mit 21 Stunden hinter Firmin Lambot belegte er den letzten Platz in der Gesamtwertung, aber den ersten Platz der B-Fahrer. Den einzigen Platz der B-Fahrer, um genau zu sein. Sieger, Verlierer und Überlebender in einer Person.
Es spielte kaum eine Rolle, dass er von den gewieften, auf Publikumswirksamkeit bedachten Organisatoren unterstützt und begünstigt worden war. Angeblich war er verpflegt und verwöhnt worden und hatte auch Preisgelder genutzt, um sich frisch zu machen.13 Aber gesehen wurde er als ein Außenseiter, der ebenso wie die Tour und wie Frankreich selbst trotz widrigster Umstände weitermachte. Sein Triumph als Letztplatzierter hatte den Franzosen einen Grund zum Jubeln gegeben und den Eindruck gemacht, dass sich nach dem Krieg endlich wieder Normalität einstellte. Die Tour von 1919 einte die Nation, und es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Jules seinen Teil dazu beitrug. Seinen Auftritt in dem mit 30.000 Zuschauern gefüllten Velodrom beschrieb L'Auto als einen »rührenden Empfang, der dem tapferen, kleinen Nempon zuteilwurde, dem einzigen Überlebenden der Kategorie B«.
Sein Bild erschien noch ein weiteres Mal, nämlich am letzten Tag auf der Titelseite von L'Auto zusammen mit allen anderen Finalisten der Tour. Auf diesem Foto trägt er ein Hemd, aber keine Kopfbedeckung, sodass sein schwarzer Haarschopf hervorsticht. Er wirkt schläfrig und ein wenig verwirrt, als sei er gerade erst aus einem Tagtraum aufgewacht, in dem er die 13. Tour de France absolviert hatte. Außerdem sieht er etwas fleischiger aus, als hätte er während der vierwöchigen Tortur dank der von den Organisatoren für ihren B-Preisträger aufgetischten Mahlzeiten und sonstigen Gefälligkeiten sogar noch zugenommen. Paul Duboc wurde sechs Wochen nach dem Rennen disqualifiziert. Eine Untersuchung hatte ergeben, dass er auf einer der letzten Etappen per Anhalter gefahren war, um seine gebrochenen Pedale reparieren zu lassen. Dadurch stieg Nempon vom elften auf den zehnten Platz auf. Er sollte noch mehrere andere Touren überleben, aber niemals ein besseres Ergebnis erzielen als diesen zehnten Platz.
Ein weiterer Beweis dafür, dass weder die Organisatoren noch das Publikum auf die Sieger fixiert waren, bilden die Begeisterungsstürme, mit denen Eugène Christophe auf dem ganzen Weg von seinem heimatlichen Pariser Vorort Malakoff bis zum Ende begleitet wurde. Nach allgemeiner Ansicht war Christophe der größte Pechvogel in der ganzen Geschichte der Tour: Nachdem er während des Großteils des Rennens in Führung gelegen hatte, brach ihm auf der vorletzten Etappe die Gabel und er musste das Gelbe Trikot an Firmin Lambot abgeben. Auf der letzten Etappe hatte Christophe eine Rekordanzahl von Reifenpannen und verlor dadurch auch den zweiten Platz an Jean Alavoine. Desgrange schrieb: »Der Himmel ist düster und verwaschen. Mächtige, schmutzige Wolken erstrecken sich bis zum Horizont. Es ist, als ob die Natur selbst trauern würde. In den Außenbezirken von Valenciennes steht Eugène Christophe auf dem Bürgersteig. Er schiebt sein Fahrrad, den Sattel zur Erde gerichtet: Die Vordergabel ist gebrochen. Für mich sieht es aus wie eine riesige Leier, deren gesprungene Saiten von seinem letzten Unglück singen.« Die offiziellen Stellen, die möglicherweise gesehen hatten, dass Gewinnen mehr bedeutet, als in der kürzesten Zeit die Ziellinie zu überqueren, gestanden ihm das gleiche Preisgeld zu wie Lambot, und zusammen mit öffentlichen Spenden nahm er mehr mit nach Hause als der Belgier.
Mit der Tour 1919 hatte Desgrange ein Rennen bekommen, das von den Fahrern noch einen höheren Tribut forderte, als er erhoffen konnte. Seine Bereitschaft, die Regeln etwas weiter auszulegen, zeigen jedoch eine Spur von Mitgefühl und Gerechtigkeitssinn, die er in seinen öffentlichen Äußerungen und seiner offiziellen Rolle zu verbergen versuchte. Mit Nempon hatte Desgrange außerdem das erhalten, was er sich gewünscht hatte, nämlich einen Sieger in heldenhafter Einsamkeit – einen einsamen Wolf, der gegen das Schicksal ankämpft.
1909
150 Teilnehmer am Start
Sieger: François Faber, 28,64 km/h, 37 Punkte
Lanterne rouge: Georges Devilly, 713 Punkte, keine Zeit aufgezeichnet
55 Finalisten
1919
69 Teilnehmer am Start
Sieger: Firmin Lambot, 24,06 km/h
Lanterne rouge: Jules Nempon, 22,02 km/h, 21 h 44' 12" Abstand
10 Finalisten
KAPITEL 3
DAS GELBE TRIKOT
Die Tour de France wird in gleichem Maße durch das groß gemacht, was sie ausschließt, wie durch das, was sie fördert. Ihre Ablehnung ist etwas Erhabenes.
Antoine Blondin
Wenn Sie dem gewundenen Verlauf der Seine von Paris aus westwärts in Richtung Ville-d'Avray folgen, dem letzten Kontrollpunkt der ersten Tour de France, gelangen gleich hinter dem verstopften Périphérique – der Umgehungsstraße – nach Issy-les-Moulineaux. Das begrünte Stadtgebiet wirkt recht anonym. Menschen eilen mit der Straßenbahn und auf den stark befahrenen Straßen von einem Ort zum anderen. Es ist die Art von Stadt, die moderne Unternehmensgebäude aufweist, aber keine traditionellen Cafés, in denen man einen expresso trinken könnte – die obskure französische Verballhornung von Espresso, bei der das »ex« anzudeuten scheint, dass es sich um »ehemaligen Kaffee« handelt. Die Straßen sind außerdem vollgepfropft mit der Art von Stadtmöblierung, die Jean-François Pescheux wahnsinnig machen würde.
Als technischer Leiter war Pescheux zwischen 2005 und 2013 dafür verantwortlich, dass die Tour an jedem Tag, in jeder Woche und in jedem Jahr reibungslos ablief. Er trug dafür Sorge, dass sich jede Geschichte und jedes Drama frei entfalten konnte, ungehindert von Gefahren durch Hilfsfahrzeuge des Rennens, Medien, Zuschauer, Kies, und desorientierende Regenschauer sowie von Bodenwellen zur Geschwindigkeitsbegrenzung, Schikanen und anderen verkehrsberuhigenden Maßnahmen, die sich in und um französische Städte in dem gleichen deprimierenden Maße anhäufen wie reifenschädigender Straßenschmutz auf einem nassen Fahrradreifen. Der Société du Tour trat Pescheux 1982 bei und arbeitete sich unter den Rennleitern Jacques Goddet, Félix Lévitan, Jean-Marie Leblanc und Christian Prudhomme nach oben. Davor war er selbst Radrennfahrer. Dreimal hatte er an der Tour de France teilgenommen, und zweimal gewann er bei den französischen Nationalmeisterschaften einen Platz auf dem Siegertreppchen für die Einzelwertung im Sprint.
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