Der kleine Zhu war von tiefem Entsetzen ergriffen, als er sah, wie sein yéye das Huhn am Hals packte, es auf ein Küchenbrett legte und das Metzgerbeil hob. Da Schlimmste kam anschließend, nachdem Báibáis Kopf vom Körper getrennt worden war und das Blut dafür sorgte, dass die Hand seines yéye glitschig wurde. Das Huhn glitt aus seinem Griff, lief kopflos durch die Küche und spritzte alles mit Blut voll. Der Anblick hatte sich tief in Zhus Erinnerung eingebrannt.
Auf dem Waldboden pikste etwas Spitzes in seinen Rücken. Zhu regte sich nicht.
»Was machst du?«, fragte die Stimme.
»Ich glaube, er ist tot«, erwiderte die andere. Sie gehörte einem Jungen. Er pikste Zhu erneut.
Dieses Mal warf sich Zhu herum und trat dem Jungen die Beine unter dem Körper weg. Er war ein dürrer Teenager, vielleicht fünfzehn Jahre alt. Bei dem anderen Jungen handelte es sich offensichtlich um seinen rund zwölfjährigen Bruder. Der Ältere ging mit einem überraschten Schrei neben Zhu zu Boden und Zhu setzte sich auf ihn und presste ihm ein Knie auf die Brust und das andere auf die Kehle.
Er wandte sich dem Jüngeren zu. »Schneid mich los. Lass mich frei, sonst breche ich ihm das Genick.« Der kleinere Junge wich zurück und schien davonlaufen zu wollen. »Wenn du gehst, wird dein Bruder bei deiner Rückkehr nicht mehr leben«, warnte Zhu.
Der Jüngere zog ein kleines Messer. Seine Hände zitterten. »Wenn du ihm etwas antust, bringe ich dich um.«
»Vielleicht«, erwiderte Zhu. »Aber nicht, bevor ich deinen Bruder umgebracht habe. Wenn du mich befreist, werden wir alle überleben. Das verspreche ich.«
»Tu es nicht, Huangyi«, sagte der Junge unter Zhus Knie gurgelnd. »Lauf weg, hol Hilfe.«
»Wenn du gehst, stirbt dein Bruder.« Zhu hielt inne und warf einen Blick auf die Brüder. Alte Erinnerungen tauchten in seinem Kopf auf. Bei genauerer Betrachtung kamen ihm die beiden bekannt vor. Er runzelte die Stirn. »Moment mal. Heißt ihr Huangyi und Huangmang? Habt ihr eine Schwester?«
Huangmang, der Ältere, der unter Zhus Knien lag, sah ihn düster an. »Woher kennst du meine jiĕ ?«
Zhu seufzte. »Ich bin Chen Wenzhu. Meiner Familie gehörte der Lebensmittelladen. Wir hatten Hühner im Garten.«
Huangyi, der Jüngere, wirkte unsicher. » Gē , was soll ich machen?«
»Ich habe das Dorf vor über fünf Jahren verlassen, um in der Stadt zu arbeiten. Huangyi erinnert sich vielleicht nicht mehr an mich. Ich weiß noch, er reichte mir damals kaum bis zur Hüfte.« Zhu nahm sein Knie vom Hals des Jungen und reduzierte den Druck auf dessen Brust. »Huangmang, du hast oft Nudelpackungen ins Geschäft gebracht, weißt du noch?«
»Ja, der Lebensmittelladen. Ich erinnere mich daran, shūshu «, sagte Huangmang, der ihn nun endlich erkannte. Er wand sich unter Zhu hervor, kam auf die Füße und wich zurück. »Schön, dich zu sehen.«
»Es ist alles in Ordnung.« Zhu versuchte, nicht bedrohlich zu wirken. »Heutzutage ist es hier draußen gefährlich. Kannst du mir die Fesseln abnehmen?«
»Ja, shūshu .«
Zhu stand auf und streckte die Arme aus. »Sind noch andere aus dem Dorf hier?«
Der erste Schlag auf den Hinterkopf ließ ihn taumeln. Beim zweiten knickte er ein. Er krachte mit dem Gesicht nach unten auf den Boden. In seinem Kopf dröhnte es. Er drehte sich auf den Rücken, sah die beiden Jungen an und wollte etwas sagen. Ihm kam jedoch kein Wort über die Lippen.
»Huangyi, hol jiĕ und die Ältesten«, sagte der ältere Junge.
»Was ist denn los? Du hast doch gesagt, dass du ihn kennst. Wie heißt er noch gleich?«
Huangmang zuckte mit den Schultern. »Mir egal. Ich will kein Risiko eingehen.«
»Ich …«, setzte Zhu an.
»Halt den Mund, húndàn !« Huangmang trat ihm in die Rippen. Zhu krümmte sich zusammen. »Du hast meinen kleinen Bruder bedroht. Ich werde dich erschlagen!«
Zhu beschloss, sich weitere Verletzungen zu ersparen, und schwieg. Huangyi kehrte einige Minuten später zurück. Er hatte einige Erwachsene dabei, die unterschiedliche landwirtschaftliche Werkzeuge in den Händen hielten. Einer hatte sogar ein Jagdgewehr dabei. Sie zogen Zhu auf die Füße. Ein Tritt in den Hintern ließ ihn losstolpern.
Die Gruppe führte ihn durch ein spärlich bewachsenes Gebiet mit hohem Gras und einigen Bäumen. Die Nacht war bewölkt, mond- und sternenlos. Das einzige Licht stammte von einer Taschenlampe, die der Mann ganz vorn in der Hand hielt. Jeden Moment konnte ein jiāngshī aus der Dunkelheit treten und sie angreifen, bevor jemand etwas merkte. Doch anscheinend befanden sie sich auf einem gesicherten Gelände. Zhu sah sich um. Die Menschen wirkten entspannt. Sie schienen zu glauben, dass sie in keiner Gefahr schwebten, aber wie konnte das sein? Selbst der Lichtblick, der einer Festung glich, war von Mauern umgeben. Sein forschender Blick wurde mit einem harten Schlag auf den Hinterkopf belohnt.
Sie betraten eine große Lichtung, die von Zelten und primitiven Holzverschlägen gesäumt wurde. In der Mitte brannte ein Lagerfeuer herunter. Es war von etwas umgeben, das wie ein öffentlicher Sitzbereich wirkte. An einer Seite gab es einen Stall mit einigen Dutzend Schweinen, Gänsen und einer einsamen, mageren Kuh. Auf der anderen sah Zhu einen großen, gepflegt aussehenden Gemüsegarten.
Einige Leute, die am Feuer und am Tisch saßen, standen auf und folgten ihm mit ihren Blicken, als man ihn ins Lager hineinführte. Zwei Männer und eine Frau, vermutlich die Dorfältesten, erwarteten ihn schon. Alle drei sahen so aus, als wären sie gerade geweckt worden, worüber sie sich zu ärgern schienen. Man stieß Zhu auf einen der Stühle.
Der Älteste zu seiner Linken, ein kahler Mann mit einem deformierten Kopf, gähnte und sagte genervt: »Ich dachte, wir wollten morgen früh über das Schicksal des Eindringlings entscheiden.«
»Richtig«, bestätigte der Mann in der Mitte. Im Gegensatz zu seinem Kollegen hatte er lange weiße Haare und einen dazu passenden Bart. »Aber er hat zwei unserer Jungen angegriffen, als sie ihm etwas zu essen bringen wollten.«
»Das erleichtert uns die Entscheidung«, erwiderte der Glatzkopf. »Jagt ihm eine Eisenstange in den Kopf und dann ist Ruhe.«
»Wieso hat Jincai ihn überhaupt in den Hain gebracht?«
»Weil er mit seinem Lieferwagen bis zum Eingang gefahren ist. Jincai wusste nicht, was er mit ihm machen soll.«
»Wir sind keine Mörder«, mischte sich die Frau nun ein. Sie war die Älteste und hatte einen krummen Rücken und dünne graue Haare, die sie zu einem Dutt zusammengebunden hatte. »Einer der Jungen sagte, dieser Mann behauptet, er stamme aus dem Dorf.«
Der haarige alte Mann kniff die Augen zusammen. »Ich kenne ihn nicht.«
»Ich bin vor fünf Jahren nach Changsha gezogen«, sagte Zhu rasch. »Ich bin der Sohn vom alten Chen.«
Die drei musterten ihn leidenschaftslos. Der Glatzkopf verschränkte die Arme vor der Brust und sah die anderen an. »Hatte Chen einen Sohn? Ich dachte, er hätte zwei Töchter gehabt.«
»Du meinst Chen, den Metzger. Der hatte drei Töchter«, erklärte die Frau. »Aber es gab auch noch den Chen, dem der Laden gehörte.«
Die drei stritten miteinander, als würden sie Mahjong spielen.
»War Chen nicht der mit dem illegalen Glücksspiel?«
»Nein, das war Jiurang.«
»Wer ist dann Chen?«
Der Glatzkopf zuckte mit den Schultern. »Spielt es eine Rolle, ob er aus dem Dorf stammt oder nicht? Jincai sagt, er würde zum Lichtblick gehören. Wenn wir ihn gehen lassen, wird er Soldaten zu uns führen.«
Darin schienen die drei sich einig zu sein. Sie dachten noch immer über sein Schicksal nach, als jemand auftauchte und ihnen die Entscheidung beinahe abgenommen hätte. Eine junge Frau, die einen der Jungen am Handgelenk hinter sich herzog, stürmte ins Zelt. Ihre Augen funkelten wütend, als sie mit dem Finger auf Zhu zeigte. »Huangyi, ist er das?«
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