»Sein Seesack ist weg«, sagte sie.
»Gut! Er ist bestimmt schon auf dem Weg zum Lichtblick.«
Elenas Laune besserte sich. Das ergab Sinn. Sie hatten von der Werkstatt bis zu diesem Feld über zwei Stunden gebraucht. Wieso hätte Zhu so lange warten sollen? Sie hatten sich vorsichtig durch das Dorf geschlichen, damit die jiāngshī sie nicht bemerkten. Zhu hatte nicht wissen können, dass sie auf der Suche nach ihm waren. An seiner Stelle wäre sie auch schon auf dem Weg nach Hause.
Elena warf einen Blick zum Horizont im Osten. »Er folgt bestimmt den Fahnen. Wenn wir uns beeilen, können wir ihn einholen.«
Bo sah zur Sonne empor, die sich hinter dichten Quellwolken verbarg. »Sieht so aus, als würde es bald wieder regnen, und der Tag ist auch schon halb vorbei. Vielleicht sollten wir den Regen im Lieferwagen abwarten. Wir können ja direkt morgen früh aufbrechen.«
Elena schüttelte den Kopf. »Nein, wir brechen jetzt auf. Es ist noch früh genug. Wir können heute Abend schon in der Zuflucht sein.«
Sie duldete keinen Widerspruch. Zwar wusste sie, dass sie ein wenig impulsiv reagierte, aber Zhu konnte nicht widersprechen und Bo war nicht gerade ein Streithahn. Obwohl Zhu mit allen Fähigkeiten ausgestattet war, die man zum Überleben in der Wildnis benötigte, gefiel ihr die Vorstellung, dass er da draußen allein unterwegs war, nicht.
Sie brachen sofort in Richtung Lichtblick auf. Elena führte sie aus dem Reisfeld und in eine schmale Schlucht, die sich an der einzigen aus dem Dorf führenden Straße entlangzog. Normalerweise hätten sie je nach Wetter rund drei Tage für die Reise zum Lichtblick gebraucht, aber sie glaubte, dass sie es, wenn sie schnell vorankamen, schon bis zum nächsten Abend schaffen würden. Zum einen, weil sie hoffte, dass sie Zhu einholen würden, zum anderen, weil in ihren Taschen so viel Beute steckte, dass sie nur noch Nahrung und Wasser für einen Tag dabeihatten.
Sie benutzten die Straßen als Wegweiser, achteten aber darauf, ihnen ansonsten nicht zu nah zu kommen. Auf fast allen Autobahnen, Straßen und Wegen, die Bevölkerungszentren miteinander verbunden hatten, drängten sich verlassene Fahrzeuge und erinnerten an das Verkehrschaos, das hier geherrscht hatte. In den Wagen, auf den Straßen und in deren unmittelbarer Nähe wimmelte es von jiāngshī .
Elena und Bo kamen den Straßen nur näher als fünfzig Meter, wenn sie sie überqueren mussten. Normalerweise suchten sie sich eine alte Stromleitung oder benutzten einen der Abwassertunnel, die unter den Straßen hindurchführten. Deshalb hatte ihr Windteam, nachdem es die Fahnenwege verlassen hatte, so lange für die Reise nach Fongyuan gebraucht. Manchmal hatte es einen ganzen Tag gedauert, bis sie eine Stelle fanden, an der sie eine Straße ungefährdet überqueren konnten. Zum Glück hatten sie die harte Arbeit schon auf dem Hinweg hinter sich gebracht und mussten jetzt nur noch den Fahnen folgen, die sie zuvor angebracht hatten.
Sie entfernten sich von der Straße und wateten durch ein überflutetes Feld, während die Sonne sich dem Horizont zuneigte. Das Gras hier reichte Elena bis über den Kopf, deshalb konnte sie nur bis zum Ende ihres kurzen Speers sehen. Bei solchen Gelegenheiten wünschte sie sich, sie hätte eine richtige Waffe besessen und nicht nur einen angespitzten Besenstiel. Zhu hatte ihr angeboten, ihr mit den gemeinsam erarbeiteten Punkten ein langes Messer zu kaufen, aber Elena waren Nahrung und Kleidung wichtiger als eine bessere Methode zum Töten der jiāngshī . Außerdem fühlte sie sich im Nahkampf nicht wohl. Der Fernkampf mit Pfeil und Bogen lag ihr mehr.
Sie hätten sich leicht verlaufen können, da Zhu sie normalerweise führte. Zum Glück fanden sie die erste, an einem Ast baumelnde gelbe Fahne, bevor es dunkel wurde. Wenn sie die nicht vor dem Abend gefunden hätten, wären sie in große Schwierigkeiten geraten.
Im Lichtblick gab es Dutzende Windteams. Sie sorgten für den Erhalt des Lagers und die Ernährung seiner Bewohner. In den wenigen Monaten, seit sie mit der Beutebeschaffung angefangen hatten, hatten sie ein System entwickelt, mit dem sie häufig benutzte Wege kennzeichneten, um eine Karte der Gegend rund um den Lichtblick zu erstellen. Dadurch hatten sie die Todesfälle reduziert und es half ihnen auch bei der Erkundung weiter entfernter Ziele.
Sie folgten den Fahnen durch das Sumpfland, dieses Labyrinth aus Schilfrohr und feuchten Dreckklumpen. Das Wasser kräuselte sich im Wind und das Gras wogte hin und her. Als die Abenddämmerung hereinbrach, regte sich auch das Wild. Elena verlor langsam die Konzentration. Man konnte nicht ununterbrochen wachsam sein. Die Tatsache, dass die markierten Wege schon oft von jiāngshī gesäubert worden waren, beruhigte sie, denn das bedeutete, dass sie sich ihrem Zuhause näherten.
Bo tippte ihr auf die Schulter und zeigte auf einen jiāngshī , der sich hoffnungslos im Gestrüpp verfangen hatte. Der arme Kerl steckte so tief im Wasser, dass sein graues, aufgedunsenes Fleisch ihm praktisch von den Knochen fiel. Elena zielte kurz mit dem Speer und stach zu. Die scharfe Spitze drang durch das Auge in den Schädel ein und das so mühelos wie in eine überreife Melone.
Die gelben Fahnen führten sie aus dem Sumpfland über einen zerfurchten Hügel und an einer Felswand hinab. Dabei umgingen sie einige bekannte jiāngshī -Gruppen. Elena und Bo erreichten das Ende der felsigen Hügel und gelangten über eine lange Hängebrücke in einen dichten Wald. Unter sich hörten sie das Stöhnen der Toten zwischen den Bäumen. Sie erklommen einen riesigen, uralten Baum und setzten ihre Reise mithilfe von Seilen fort, die Äste und Bäume miteinander verbanden. Jiāngshī aus dem Nachbardorf Duogai waren in den Wald eingedrungen. Sie und das dichte Unterholz sorgten dafür, dass man ihn nicht länger auf dem Boden durchqueren konnte. Also hatte sich Hengyen, der Anführer der Windteams, eine andere Strategie ausgedacht. Die Hälfte der Windteams und ein Großteil der noch verbliebenen Militärgarnison hatten zwei Wochen für die Planung und Konstruktion der Himmelsbrücke benötigt. Sie hatten hohe Verluste erlitten, aber nun konnten die Windteams auch im Westen nach Beute suchen. Das war essenziell, denn der Osten, wo die Großstädte lagen, war praktisch unpassierbar.
Nach einigen Meilen gingen Elena und Bo durch einen Abwasserkanal unter einer Schnellstraße hindurch. Auf der anderen Seite hielt Elena inne und warf einen Blick zum Horizont. Das schwächer werdende Sonnenlicht fiel auf den Nebel, der die weit entfernten grünen Berge bedeckte. Es war ein atemberaubender Anblick, der Elena einen Moment lang die Tragödien vergessen ließ, von denen sie umgeben war. China wurde erneut zu diesem magischen Ort, in den sie sich während eines Kurses über chinesische Mythologie verliebt hatte.
Hunan galt mit ihren üppigen Urwäldern, hohen Bergen und den zahlreichen sich dahinschlängelnden Flüssen als eine der schönsten Provinzen des Landes. Sie spielte auch eine wichtige Rolle in der chinesischen Geschichte. Sie war die Bühne, auf der sich viele Legenden über tragische Helden, mystische Kreaturen und himmlische Wesen zugetragen hatten, und hier fand auch das berühmte Drachenbootfest statt. Außerdem waren der Philosoph Wang Fuzhi, der Künstler Qi Baishi und Mao Tse-tung, der Gründer der chinesischen Volksrepublik, hier geboren worden.
Elena hatte zwischen der Schule und dem Jurastudium an der Universität von Texas unbedingt ein Jahr in China verbringen wollen. Sie hatte große Pläne geschmiedet, hatte Mandarin fließend sprechen und für internationale Konzerne in Asien arbeiten wollen, doch diese Träume hatten sich nun zerschlagen oder waren zumindest erst einmal auf Halde gelegt worden. Elena wusste nicht genau, ob dies das Ende der Welt war, aber es kam ihr definitiv so vor. Sie hätte bei ihrer Familie sein sollen, doch stattdessen war sie auf der anderen Seite der Welt, weit weg von ihren Verwandten und allem, was ihr vertraut war.
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