Der Lieferwagen blieb abrupt in einem Reisfeld stehen, als er plötzlich nach vorn in den Schlamm kippte. Zhu wäre beinahe durch die Windschutzscheibe geflogen. Er krachte mit dem Kopf gegen das Glas, wurde heftig zurückgeschleudert und knallte gegen die Kopfstütze. Die Welt schwankte und auf einmal sah er alles dreifach.
Er blinzelte einige Male, um die Benommenheit zu vertreiben. »Anschnallen wär ’ne gute Idee gewesen«, knurrte er. Dann warf er einem Blick aus dem Seitenfenster und sah einen jiāngshī , der einen kegelförmigen Hut und ein einfaches Hemd trug, durch den Schlamm auf den Lieferwagen zuschlurfen.
Zhu wollte sich in seiner Verfassung auf keinen Kampf einlassen. Er zog sich auf die Beifahrerseite und öffnete die Tür. Er stand ein wenig zu schnell auf. Die Welt drehte sich noch, als er den Lieferwagen verließ und mit dem Gesicht nach unten in den Schlamm fiel. Das eiskalte Wasser stach wie Nadeln in seine Haut, als sein Gesicht einen Moment lang untertauchte. Das riss ihn aus seiner Benommenheit und er kam auf Hände und Knie. Er zog seinen Seesack aus dem Wagen und sah sich nach einem Fluchtweg um. Dann richtete er sich langsam auf die Knie auf und überprüfte seinen Gleichgewichtssinn. Ihm war immer noch schwindelig, aber wenigstens schwankte die Welt nicht mehr so stark. Er wischte sich den Schlamm aus dem Gesicht und hielt inne.
In der Nähe standen zwei Gestalten, die schwere Arbeitskleidung trugen. Im ersten Moment hielt Zhu sie für jiāngshī . Er griff nach seiner Machete, erstarrte jedoch, als eine der Gestalten einen Knüppel herauszog.
Zhu hob die Hände. »Halt«, flehte er. Seine Worte klangen durch den Schlamm in seinem Mund dumpf. »Wer seid ihr? Ich brauche Hilf…«
Zhu konnte den Satz nicht mehr beenden, denn eine der beiden Gestalten machte einen Schritt auf ihn zu und ließ den Knüppel gegen seine Schläfe krachen.
4
FREMDE IN EINEM FREMDEN LAND
Elena wehrte sich so lange sie konnte gegen Bo. Sie schlug und kratzte und schubste, aber Bo war unnachgiebig wie ein Felsbrocken und zog sie beständig von dem kaputten Dachfenster weg. Als sie sich beinahe aus seinem Griff gewunden hätte, hob er sie einfach wie einen Sack Reis hoch, warf sie sich über die Schulter und ging weiter.
»Lass mich runter! Wir müssen zu ihm gehen, Arschloch! Lass mich runter, húndàn !« Arschloch und húndàn bedeutete dasselbe, aber so hatte sie anfangs Mandarin gelernt. »Wir können ihn doch nicht im Stich lassen.« Sie stieß eine Reihe Flüche auf Mandarin und Englisch aus.
Bo setzte sie schließlich ab, hielt sie aber weiter am Mantel fest. »Er ist so gut wie tot, Elena. Wenn du zurückgehst, wirst du ebenfalls sterben.«
Tränen traten ihr in die Augen. Sie kämpfte gegen sie an. Elena hatte sich seit dem ersten Monat der Epidemie, in dem sie fast durchgängig geweint hatte, keine Tränen mehr erlaubt. Damals hatte sie sich geschworen, dass sie nicht länger in Selbstmitleid versinken würde, da Tränen niemandem etwas brachten. Sie würde erst wieder weinen, wenn sie ihre Familie wiedersah – dann aber vor Freude.
Sie atmete tief durch und murmelte: »Ich bin wieder okay.«
Bo ließ sie nicht los. »Du versprichst mir, dass du nicht zurückgehst?«
Sie nickte und sagte leise: »Das verspreche ich, Arschloch.«
»Du versprichst mir, dass du mich nicht noch mal schlägst?«
Sie betrachtete die roten Striemen, die sich über seine Wange zogen. »Das mit deinem Gesicht tut mir leid.«
Er zuckte mit den Schultern und ließ sie los. Er wirkte nachdenklich. Was ist ein ›Arschloch‹?«
»Das heißt ›guter Freund‹«, erwiderte Elena, ohne mit der Wimper zu zucken.
Er nickte. »Dann bin ich ein sehr gutes Arschloch.«
Sie setzte sich auf die Dachkante und warf einen Blick in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Sie schlug Bos Hand zur Seite, als sie sich wieder ihrem Mantel näherte.
Bo kniete sich neben sie und nahm ihre Arme in seine großen Hände. Er wurde ernst. An die Stelle des fröhlichen, langsam redenden Trottels trat jemand, der nüchtern und umsichtig war. »Hör zu, xiăomèi . Ich hatte eine große Familie in Liaoning: eine Frau, Kinder, Brüder und Schwestern, Onkel und Tanten und unzählige Neffen und Nichten. Als die Provinz fiel, starb die Hälfte von ihnen in der ersten Woche. Die andere Hälfte starb, weil sie versuchte, die zu retten, die nicht mehr zu retten waren.« Er schüttelte sie sanft. »Zhu ist so gut wie tot. Wenn wir ihn ehren wollen, dann, indem wir überleben.«
»Und wenn ihm die Flucht gelingt?«
»Dann wird er zu uns finden. Zu dir.«
»Aber …«
Ein lautes Kreischen zerriss die Stille, gefolgt von einem Knall. Beides kam aus der Werkstatt. Elena und Bo sahen sich verblüfft an, dann liefen sie ein Stück zurück und beobachteten, wie der Lieferwagen um die Ecke bog und die Straße entlangraste. Elena zuckte zusammen, als er durch die jiāngshī pflügte wie eine Kugel durch die Kegel auf einer Kegelbahn und eine Häuserwand streifte.
Sie zupfte an Bos Ärmel. »Komm schon.«
Es war nicht schwer, Zhu zu folgen. Sie mussten sich nur an die Schneise der Verwüstung und die Reifenspuren halten. Sie liefen über die Dächer, bis sie die Häuser hinter sich gelassen hatten, und dann über eine Mauer, die am Dorfrand endete. Elena entdeckte den nach vorne geneigten Lieferwagen in einem Reisfeld.
Das war der leichte Teil, aber den Lieferwagen zu erreichen erwies sich als schwieriger. In dem Reisfeld, das sie durchqueren mussten, hielten sich Dutzende jiāngshī auf. Sie konnten sich auf dem offenen Gelände nirgendwo verstecken und auch nicht auf etwas klettern oder unter etwas hindurchkriechen. Das bedeutete, dass der einige Hundert Meter lange Weg zum Lieferwagen extrem gefährlich sein würde. Dachten sie zumindest.
Elena und Bo fanden jedoch rasch heraus, dass sich das Reisfeld in einer Senke befand, in der sich das Wasser sammelte. Das Wasser reichte Elena bis zu den Knien und es fiel ihr schwer, durch den Schlamm zu waten. Den Toten fiel das jedoch noch schwerer, sie steckten praktisch fest. Deshalb war es recht einfach, ihnen aus dem Weg zu gehen, auch wenn Elena und Bo auf jiāngshī achten mussten, die sie nicht sahen, weil sie bereits im Wasser versunken waren. Sie brauchten eine Stunde, um bis zum Lieferwagen vorzudringen, weil Elena bei jedem Schritt mit ihrem Speer im Schlamm vor ihnen stochern musste.
Bis sie den Lieferwagen erreichten, war es bereits später Vormittag. Sie hatten viel länger als erhofft gebraucht. Als sie auf dem trockenen Teil des Felds ankamen, lief Elena sofort los. Sie bemerkte einen jiāngshī , der in der Nähe des Lieferwagens im Schlamm feststeckte und sinnlos auf der Stelle lief. Er drehte sich mit wütendem Stöhnen zu Elena um und landete prompt im Schlamm. Sie stieß ihm die Speerspitze in den Nacken, als sie und Bo an ihm vorbeigingen.
Elenas Hoffnungen zerschlugen sich, als Bo die Fahrertür öffnete und niemanden im Wagen vorfand. Sie entdeckten frisches Blut an der Windschutzscheibe und auf den Sitzen. Elena ging um den Lieferwagen herum und fluchte über das knöcheltiefe Wasser. Wäre es etwas niedriger gewesen, hätten sie Zhus Fußspuren folgen können.
»Wenigstens lebt er noch«, sagte Bo und warf einen Blick unter den Lieferwagen. »Das ist doch schon was.«
Elena verdrängte ihre Enttäuschung. Ja, das war schon was. Und definitiv besser, als Zhu tot vorzufinden – oder schlimmer noch untot. Die Vorstellung, ihn umbringen zu müssen, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Er lebte und das war das Wichtigste. Wahrscheinlich war er nicht einmal schwer verletzt, denn er hatte den Unfallort ja zu Fuß verlassen.
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