1 ...6 7 8 10 11 12 ...28 Ich befand mich also während meines fast neun Monate dauernden Aufenthaltes in Stroops Zelle Auge in Auge mit einem Massenmörder. Unsere Beziehungen verliefen im Rahmen einer eigentümlichen Loyalität. Obwohl es mir anfangs schwerfiel, bemühte ich mich, in Stroop nur den Menschen zu sehen. Er hatte meine Haltung begriffen, obwohl ich immer wieder meine Ablehnung und Feindseligkeit gegenüber der Ideologie, der er diente, und den Handlungen, die er begangen hatte, nachdrücklich unterstrich. Stroop seinerseits versuchte nicht, einen Freund der Polen zu mimen und seine eigenen Taten zu verurteilen.
Diese gemeinsam verbrachte Zeit wurde zum Impuls und lieferte das Quellenmaterial für dieses Buch. Das Bild, das ich hier zeichne, ist gewiss nicht vollständig. Und es ist nicht frei von meinen eigenen Kommentaren, obwohl ich versucht habe, sie zu vermeiden.
Gebe ich den Sinn der Worte und der Verhaltensweisen von Stroop und Schielke wahrheitsgetreu wieder? Ich glaube schon. Umso mehr, als ich mir kurz nach Verlassen des Gefängnisses Aufzeichnungen gemacht habe und einige Aussagen Stroops in den Archiven und den mir zugänglichen historischen Dokumenten überprüfte. Nirgends fand ich einen Hinweis, dass Stroop in unseren Gesprächen die Unwahrheit gesagt oder Schönfärberei betrieben hätte.
Bestimmte Teile der »Gespräche mit dem Henker« könnten zu Missverständnissen führen. Sollte dies der Fall sein, so ließen sie sich meiner Meinung nach nur damit erklären, dass es dem Leser unmöglich ist, seine Erfahrungen und seinen Wissensstand mit den hier beschriebenen Tatsachen gleichzusetzen; oder mit meiner subjektiven Unfähigkeit, diesen Bericht niederzuschreiben. Ich betone: Bericht; denn im Falle dieses Buches scheint mir jegliche literarische Fiktion unpassend.
Noch eine Anmerkung zu den Dialogen, die in einigen Kapiteln der »Gespräche mit dem Henker« vorkommen. Möglich, dass es zu viele sind. Aber mein 255 6Tage währendes Leben in dem Dreieck »Stroop, Schielke und ich« (nur für kurze Zeit war ein vierter Mitgefangener dabei) setzte sich aus Dialogen zusammen, jener Grundform sprachlicher Kontakte in kleinen Zellen. Warum sollte ich mich dieser Form nicht bedienen, da es um die Wahrheit geht?
II. Kapitel
Zu Füssen von Bismarcks Cherusker
Der SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS Stroop, bekannt als Jürgen, trug bis zu seinem 46. Lebensjahr den Vornamen Joseph 1, den er gemäß der Familientradition von seiner Mutter Katharina, geb. Welther, und dem Vater Konrad Stroop, einem Polizeichef im Fürstentum Lippe-Detmold, erhalten hatte. Josephs Eltern waren katholisch. Der Vater trug sein Glaubensbekenntnis kaum zur Schau, die Mutter dagegen war eine bigotte Frömmlerin, wie aus den Erzählungen Stroops in der Zelle hervorging.
Im Gefängnis von Mokotów trafen in den Jahren 1947–1953 in steiler gotischer Schrift geschriebene Briefe ein, in denen die Witwe Käthe Stroop ihrem Sohn Bibelsprüche schickte, obwohl er zum Abtrünnigen geworden war. (Zum Offizier der Waffen-SS befördert, brach er mit der römisch-katholischen Kirche und nannte sich »gottgläubig«.) Ich nehme an, dass seine Mutter die Sünden, für die der Sohn zuerst in Landsberg 2und später in Polen im Gefängnis saß, nicht für Verbrechen hielt. So viel zumindest ging aus den Briefen hervor, die Stroop mir zu lesen gab.
Man könnte meinen, dass ein Polizeichef im Fürstentum Lippe-Detmold zur Elite der Regierenden zählte und in seinem Beruf hoch angesehen war. In Wahrheit bekleidete Konrad Stroop den Rang eines Polizeioberwachtmeisters und befehligte kaum fünf Polizisten. Diese Tatsache bestimmte sein berufliches Niveau und seine gesellschaftliche Stellung.
Das Fürstentum zählte vor dem Ersten Weltkrieg etwa 150000 Einwohner, stellte aber bis 1918 ein kleines, selbstständiges Staatsgebilde innerhalb des Kaiserreiches dar. Trotz umfangreicher dynastischer Traditionen und Verschwägerungen war der Fürst von Lippe-Detmold kein bedeutender Herrscher. Und sein Polizeichef war in Wirklichkeit nur Leiter einer Polizeiwache. Allerdings brauchten da auch nicht allzu viele Ordnungshüter beschäftigt zu werden. Geruhsame Zeiten, Heimatverbundenheit, überkommene Sitten und das Fehlen einer modernen Wirtschaftsstruktur führten – strafrechtlich gesehen – zu einem gediegenen moralischen Lebenswandel. In den Städten und Dörfern kannte jeder jeden, so dass die Angst vor der öffentlichen Meinung die Bereitschaft zu einem Verbrechen von vornherein lähmen konnte. Die aktiveren Elemente und Abenteurer wanderten in der Regel in das nahe Rheinland und nach Westfalen aus, wo sich die Industrie unaufhaltsam entwickelte.
Oberwachtmeister Konrad Stroop, der einer westfälischen Bauernfamilie entstammte, wohnte in der Mühlenstraße, fast im Zentrum des damals 11000 Einwohner zählenden Städtchens Detmold. Als ehemaliger Soldat war er gedrillt im Gehorsam gegenüber Gott, dem fernen Kaiser und dem Fürsten, seinem nahen Arbeitgeber. Ein Leben lang ein treuer Untergebener.
In seiner Jugend hatte er sich wohl manchmal aufgelehnt – nicht als Proletarier, sondern als Bauer. Von Zeit zu Zeit regten ihn die hochfahrenden Aristokraten auf, aber er verstand ihren Herrschaftsanspruch über Grund und Boden, denn in seinen geheimsten Träumen sah sich Oberwachtmeister Konrad Stroop als Besitzer eines Bauernhofes, wie mir sein Sohn in der Zelle erzählte.
Ich nehme an, dass am 26. September 1895, als sein Sohn Joseph in jener Mühlenstraße geboren wurde, seine Frau Käthe unter dem Federbett hervor zu ihrem Mann sagte:
»Wir beide gehören zwar noch nicht zur guten Gesellschaft, auch wenn dir der Fürst manchmal auf die Schulter klopft und auch zu mir freundlich ist. Aber ich werde alles tun, und du auch, mein Alter, damit aus Joseph etwas wird. Hier in Detmold.«
Das kleine Detmold war seit Jahrhunderten Hauptstadt dieses winzigen Staates und Residenz der Fürsten zu Lippe; früher trugen sie einen Grafentitel.
Im Gegensatz zum nahen Lemgo, der einzigen Hansestadt des Fürstentums, in welcher die unansehnlichen Bürgerhäuser vom merkantilen Geiz der Städtebauer zeugen, besitzt Detmold eine Reihe repräsentativer, ehemals fürstlicher Bauten, die jetzt der Allgemeinheit dienen. Außer Parkanlagen, Plätzen und Alleen, Gewächshäusern, einer Reithalle u.a. verfügt Detmold über einen klassizistischen Theaterbau, in dem seit hundertfünfzig Jahren Opern aufgeführt werden. Außerdem gibt es eine Landesbibliothek, ein lippisches Museum und ein »Heimathaus« mit einer Kunstsammlung, ein fürstliches Verwaltungsgebäude aus dem 17. Jahrhundert und ein ehemals barockes Palais, das im 19. Jahrhundert umgebaut wurde und heute die Nordwestdeutsche Musikakademie beherbergt. Es besitzt noch andere alte Gebäude, eine Gemäldegalerie, eine Gobelin- und Porzellansammlung, eine Altstadt und eine Neustadt, ein Rathaus, mehrere Kirchen der verschiedenen Glaubensbekenntnisse, einen Marktplatz sowie viele kommunale Einrichtungen – darunter einen Brunnen, den Stroop häufig erwähnte, mit den Skulpturen einer Göttin und eines Rehs (den sogenannten Donop-Brunnen).
Vor allem aber ist das Schloss dieser »kleinen, sauberen Garnisonsstadt Detmold« angestammter Sitz derer von Lippe. Diese Burg umfasste im 13. Jahrhundert ein Viertel der gesamten Stadt, die am Zusammenfluss von Werre und Berlebecke liegt. Eine so wehrhafte und zugleich verteidigungsgünstige Herrschaftsresidenz bildete ein wichtiges Instrument für politischen, gesellschaftlichen und moralischen Druck. Beim Anblick der mächtigen Mauern machte der brave Bürger jeden Tag im Geiste seinen Diener; er verbeugte sich vor der Machtfülle des Feudalherrn und der eigenen Bedeutungslosigkeit. Jahrhundertelang gab es für den Bürger von Detmold nur die Wahl zwischen Auflehnung (aber so etwas passierte in Lippe überaus selten) und der Koexistenz. Man wählte in der Regel die Koexistenz. Sie wandelte sich im Laufe von Generationen zu bedingungslosem Gehorsam.
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