1 ...7 8 9 11 12 13 ...28 Übereinstimmend mit den Traditionen Westfalens war die Detmolder Burg einst ein von schützenden Wassergräben umgebenes Wasserschloss. Als Stroop geboren wurde, gab es diese Festungsgräben nur noch an zwei Seiten des Schlosses, dessen Grundriss aus vier
Flügeln besteht – was, wie Stroop sich ausdrückte, »den Eindruck von maßvoller Macht« vermittelt. Stroop verstand nichts von Architektur und Kunstgeschichte. Aber seinen recht genauen Schilderungen konnte ich entnehmen, dass das Schloss in norddeutschem Renaissance-Stil erbaut war, mit einigen gotischen Resten.
Nachdem ich das Gefängnis verlassen hatte, fiel mir die Arbeit eines Dr. Gerhard Peters aus Lippe in die Hände. Ich fand darin einen Kommentar über die architektonisch-bildhauerische Ausschmückung des Schlosses: »Die Giebel, Erker, Ornamente sowie alle naturalistischen und abstrakten Verzierungen vermitteln in ihrer Gesamtheit eine romantische Lebensfreude, die die Zuverlässigkeit und das Selbstbewusstsein der herrschenden Familie widerspiegeln.«
Was soll man nur von diesen Detmoldern halten?! Wenn im Jahre 1960 ein Wissenschaftler aus Lippe solch schmeichelhafte Ansichten über die ehemaligen Herrscher dieses Ländchens verbreitet, dann darf man sich nicht wundern, wenn ein anderer Detmolder, der in seiner Jugend mit Aussagen ähnlicher Doktoren gefüttert wurde, nun ebenfalls das Lob dieser Fürstenfamilie sang und von der Notwendigkeit überzeugt war, man müsse Rittergüter in der Ukraine besitzen. Und dass er, genau wie Dr. Peters, hartnäckig an seiner Meinung festhielt. Es war die unerschütterliche Überzeugung von der Rechtmäßigkeit jeglicher Macht, solange sie über die Einhaltung einer »Ordnung« wacht, das heißt, solange sie den Bürger fest im Griff hat.
In Detmold lebten auch gebildete Leute, Gelehrte und Halbgelehrte, Künstler, Schriftsteller, Musiker, Geistliche, Lehrer und sogar Journalisten. Es erschienen zwei, zeitweise auch drei Zeitungen.
Auch regionale wissenschaftliche Gesellschaften, Musikvereine und soziale Verbände hatten hier ihren Sitz. Fürstin Pauline zu Lippe aus dem Hause Anhalt-Bernburg, eine Nichte Katharinas der Großen, gründete in Detmold im Jahre 1802 den ersten deutschen Kindergarten. Stroop erzählte von ihrer sozialen Tat: »Die in ganz Lippe hochverehrte Fürstin Pauline verzichtete damals auf den Kauf von einigen Kleidern und bestimmte das Geld, das sie dadurch gespart hatte, für die Gründung eines Kindergartens. Sie war mit Kaiserin Josephine, der Gemahlin Napoleons, befreundet.« »Mit Josephine, so so! Freundinnen ahmen sich gern nach. Hat eure Pauline ihrem Mann ebenfalls Hörner aufgesetzt?« scherzte ich.
»Warum unterstellen Sie Fürstin Pauline solche Schweinereien?«, empörte sich Stroop.
»Erstens ist es keine Schweinerei, einen ergebenen Geliebten zu haben«, entgegnete ich. »Und zweitens, ganz ohne Spaß, halte ich sehr viel von der Hilfsaktion der Fürstin für Mutter und Kind. Diese Fürstin war für die damaligen Zeiten durchaus fortschrittlich. Und das ist schon sehr viel.«
Hier setzte eine »grundsätzliche« Auseinandersetzung ein. Diskussionen in der Zelle sind eine sportliche Betätigung besonderer Art. Auch ich unterlag diesem Zwang oder auch Bedürfnis, bis ich mich an einen Satz von Puschkin erinnerte, in dem er rät, bei manchen Personen einem Disput aus dem Weg zu gehen.
Die Hügel des Teutoburger Waldes, der vor den Toren Detmolds liegt, sind wunderschön. Grün bewaldete Hänge erstrecken sich bis in die Täler, die von dürftigem Humus bedeckt sind. Eine zauberhafte Landschaft, aber ein felsiger Grund. Über diese Steine sagte mir Stroop einmal:
»Mit dem Boden kenne ich mich aus, Herr Moczarski, ich war Katasterinspektor im Fürstentum Lippe. Es gibt dort viele Steine, die man nicht beseitigen kann, weil sie in der Erde wachsen.«
»Wieso wachsen? Ein Stein lebt doch nicht, also kann er auch nicht wachsen.«
»Sie irren. Steine wachsen im Boden. Auch wenn man es mit dem bloßen Auge nicht erkennen kann. Jahr für Jahr kommt eine Schicht dazu, und nach einigen Jahrzehnten wird aus einem Steinchen ein Felsbrocken.«
Stroop kehrte mehrmals zu diesem Thema zurück. Er wusste, dass ich seine Meinung nicht teilte und kannte auch meine Begründung. Es gelang mir aber nicht, ihn zu überzeugen. Schließlich, als er mit seinen Ansichten etwas mutiger geworden war, meinte er:
»Herr Moczarski, Ihre These von den Steinen beweist, dass Sie marxistischem Gedankengut huldigen.«
Im steinigen Lippeland gibt es schöne Wälder, herrliche Nadel- und Laubbäume, kleine Seen, Bäche, romantische Felsengruppen, weite Lichtungen, Wiesen und etwas Ackerland. Es verfügt über reiche Jagdgründe; und wo gejagt wird, gibt es Pferde, Schaftstiefel, Hunde. Und manchmal auch Amazonen.
Vom Jagen sprach Stroop selten. Offensichtlich wurden zu Kaiserzeiten und während der Weimarer Republik weder er noch sein Vater zu den Jagdvergnügungen der Potentaten zugelassen – es sei denn in der Rolle von Bewachern. Über Pferde hingegen – westfälische, schwäbische, fränkische, Detmolder, ostpreußische, friesische, ungarische, polnische, ukrainische, polesische und andere sowie über Pferderassen und -gewohnheiten, über Reitschulen und die Kunst des Lenkens wurde ich bis zum Überdruss aufgeklärt.
Joseph Stroop hatte eine heitere, bäuerlich-bürgerliche Kindheit. Sein Vater war soldatisch streng, chauvinistisch und roch immer nach Pfeife. Er liebte es, mit Freunden beim Bier zu sitzen; und immer, wenn ihm sein Fürst ein Glas Wein oder einen Schnaps spendiert hatte, kehrte er strahlend nach Hause zurück. Die Mutter führte ein strenges Hausregiment. Sie duldete die bäuerliche Herkunft ihres im Polizeidienst stehenden Ehemannes, lebte aber ausschließlich das Leben einer Städterin, mit Nachbarinnen, der Bequemlichkeit der Einkaufsläden, dem täglichen Schwatz auf dem Marktplatz und der Sonntagspredigt des Pfarrers. Ihre Weltanschauung war zwischen der Kirchenkanzel und dem Sofakissen auf dem Fensterbrett angesiedelt.
So ein Fensterkissen ist schon eine praktische Angelegenheit. Man kann sich darauf stützen, ohne den Bauch einzudrücken, dabei stundenlang die Straße im Auge behalten und ohne alle Heimlichkeit die Nachbarn beobachten. Dieses Sofakissen scheint mir eine Antwort der deutschen Frau auf ihre traditionelle Sklavinnenrolle in der ehelichen Gemeinschaft zu sein. Das Kissen macht es möglich, sich mit dem Unterleib innerhalb der Wohnung aufzuhalten, mit dem Auge, dem Ohr und manchmal auch mit dem Mundwerk dagegen außerhalb. »Dabei wurde in Detmold eine Regel genau befolgt«, erinnerte sich Stroop. »Während man auf dem Kissen aus dem Fenster lehnte, musste die Gardine völlig zurückgezogen sein, es sei denn, der Gardinenstoff war durchsichtig. Auf keinen Fall durfte die Frau einen undurchlässigen Vorhang hinter sich haben. Diesen Brauch hatten die Bürger eingeführt«, berichtete Stroop, »nachdem eine Ehefrau ihre eheliche Treue zwar nach außen kund tat, wobei sie einsam aus dem Fenster lehnte, während sich zu gleicher Zeit ihr junger Liebhaber hinter dem schweren, geschlossenen Vorhang wacker mit ihr vergnügte.«
Laut Stroop ging diese Sitte (der offenen Gardine, nicht der Lustbarkeiten der Ehefrauen) auf die Zeit der Hexenverbrennungen zurück. Nach dem Dreißigjährigen Krieg hatte der Hexenwahn in Lippe einen Höhepunkt erreicht. In Detmold, das 1648 etwa 900 Einwohner zählte, wurden damals 19 Hexen und Zauberer hingerichtet. Die heißblütige Ehefrau eines angejahrten Bürgers, welcher enge Verbindungen zum Teufel nachgesagt wurden, soll diese scheinheilige Gardinenmethode erfunden haben. Es geht hier nicht um die Praktiken eines Fensterkissen-Ehebruchs oder um die Herkunft dieses Brauchs. Auch nicht um die Geschichte der Grausamkeiten unter den europäischen Völkern. Das Problem, das unsere Aufmerksamkeit verdient, liegt in der Hypothese, dass beständiges Unrecht, das im Namen des Dogmas vom widerspruchslosen Gehorsam gegenüber mächtigen Führern geduldet wird, bei gleichzeitigem Fehlen einer erzieherischen Gegenwirkung die Psyche der Menschen auf die Dauer deformiert. Als Beispiel eines in jener Zeit vielleicht ganz normalen Unrechts kann die Behandlung der Hexen in Lippe dienen. Ihre Zahl – sie betrifft zwei Prozent der Einwohner Detmolds – ist erstaunlich hoch. So als würde man heute 26000 bis 28000 Einwohner Warschaus auf dem Scheiterhaufen verbrennen.
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