Moczarski sagte oft, dass Hitler im Grunde geradliniger gewesen sei als Stalin. Hitler war eine Kreatur von primitivem Hass. Während er Juden ermorden ließ, verkündete er, es handele sich um Läuse. Er erklärte, dass Slawen lediglich ein Sklavenstamm seien und behandelte sie entsprechend. Er tötete und erwartete nicht, dass man ihn liebte, ihm Recht gab, ihn menschlich und gerecht fand. Stalin dagegen ließ töten und verlangte von seinen Opfern Liebe und blinde Ergebenheit sowie die Bestätigung, dass er der größte Freund der Menschheit sei ...
Ein Kritiker schrieb nach der Lektüre des Buches »Gespräche mit dem Henker«, ein »Treppenwitz der Geschichte« hätte bewirkt, dass Moczarski neun Monate gemeinsam mit Stroop, dem Henker von Warschau, in einer Zelle verbringen musste.
Hier geht es um keinen Witz, sondern um ein Verbrechen. Und nicht die Geschichte war schuld, denn weder Kanaillen noch Schergen schreiben die Geschichte eines Volkes. Die wirkliche Geschichte Polens schrieben mit ihrem Leben Kazimierz Moczarski und andere, die ihm ähnlich waren. Von Moczarski wird man eines Tages in den Schulbüchern lesen, er wird zu jenen gehören, denen Polen sein Selbstbewusstsein und seine geistige Unabhängigkeit verdankt, die generationenlang brutal vergewaltigt wurden und trotzdem im Gedächtnis der Menschen lebendig geblieben sind.
An die Namen derer, die Moczarski misshandelt haben, erinnert sich heute niemand mehr – sie verstauben in den Polizeiakten. Aber nicht nur sie tragen die Verantwortung für alles, was Moczarski angetan wurde.
Das Schicksal dieses Mannes beweist, dass es zwischen totalen Regimen keinen Unterschied gibt. Die Bedeutung des Buches »Gespräche mit dem Henker« beruht auf der Vielschichtigkeit der Themen und der Eindeutigkeit der moralischen Urteile, die es enthält.
In einer gemeinsamen Zelle, die sie mit einem Namenlosen namens Schielke teilen, fristen zwei Verurteilte ihr armseliges Dasein. Der eine ist ein Naziverbrecher, ein Mörder von Hunderttausenden unschuldiger Opfer, das Gestalt gewordene Beispiel für eine faschistische Einstellung zum Leben. Der andere ist das Opfer jener Henker und Mörder, die unbeeindruckt durch die Gefängnisgänge von Mokotów schlendern, von einer nur geringfügig andersgearteten Ideologie geprägt. Der SS-General Stroop steht beispielhaft für eine Mentalität, die im Dienst des Nazi-Terrors gezüchtet wurde, Moczarski wird von Handlangern des stalinistischen Terrors misshandelt. Doch Merkmale einer bestimmten Ideologie spielen hier keine Rolle – es zeigt sich nämlich, dass sowohl Methoden als auch Denkungsweisen einander stark ähneln.
Moczarski wiederholte mir gegenüber häufig, seine Gespräche mit Stroop seien nicht nur ein Versuch gewesen, dem furchtbaren Gefängnisdasein zu entfliehen. Sie dienten auch dem Erkennen der Realität, in der er sich befand. Während er die tiefsten Seelenregungen Stroops kennenlernte, versuchte er mittelbar, mehr über seine eigenen Peiniger zu erfahren. Und es gelang!
Der vermeintliche »Treppenwitz der Geschichte«, der schreckliche Zynismus wurde wohl eher zur göttlichen Rache der Wahrheit an der Verlogenheit, der Tugend an der Sünde, des Rechts am Verbrechen: Denn alles, was in der Vorstellung seiner Peiniger Moczarski entehren und vernichten sollte, erwies sich dank seines ungebrochenen Geistes als ein großer Enthüllungsprozess.
Moczarski war nicht in der Lage, die unmenschliche Denkweise der Männer, die ihn folterten, völlig zu erfassen. Kehrte er jedoch von den Verhören in die Zelle zurück, lagen wochen- und monatelange Gespräche mit einem Vertreter der gleichen Denkungsart vor ihm. Stroop erwies sich als das »Alter Ego« jener namenlosen, in undurchsichtiger Anonymität verharrenden Funktionäre und Handlanger der stalinistischen Diktatur, die manchmal in den Büchern Solschenizyns auftauchen. Denn sie unterschieden sich in nichts voneinander ...
Man könnte einwenden, dass es viele solcher Gestalten in unserer modernen Literatur gibt. Diese Ansicht ist falsch. Denn noch niemand hat sich je in einer ähnlichen Lage befunden. Sie schuf dieses in der Geschichte des Schrifttums wohl einmalige Buch.
Jene zwei Männer haben in der Zelle nicht nur miteinander geredet. Beide hofften auf Leben. Aber beide fürchteten, wussten, dass sie bald sterben würden. Jedes Wort von Stroop wurde zugleich zu einer Art Beichte, abgelegt von einem Mann, dem nur gelegentlich Ahnungen, Eingeständnisse von Schuld kamen, der aber eben darum sein Inneres offenlegte, so bedingungslos wie noch nie in seinem Leben. Das Bewusstsein, einem gemeinsamen Schicksal ausgeliefert zu sein, verstärkte die Offenheit seiner Bekenntnisse.
Der Zufall wollte es, dass Moczarski dem Tod durch den Strang entging. Hätte Stalin noch ein wenig länger gelebt, hätte sich nicht der Teufel im März 1953 seiner erinnert – dieses Buch wäre nie geschrieben worden.
Moczarski empfand für den SS-General keinerlei Sympathie. Für die ältere Generation unter uns, die die Kriegszeiten noch lebhaft in Erinnerung hat, klingt das selbstverständlich, alles andere schiene absurd, unbegreiflich.
Und doch ist alles nicht so einfach. 255 Tage und Nächte verbrachte Moczarski mit diesem Mann in einer Zelle, während beide mit dem Tod rechnen mussten. Wer so etwas nicht mitgemacht hat, weiß nichts von der gefühlsmäßigen Spannung einer solchen Situation.
Als die Zeitschrift »Odra« die »Gespräche mit dem Henker« veröffentlichte, wurde Moczarski von vielen gefragt, wie es möglich sei, dass er nach fast 25 Jahren die Gespräche so genau wiedergeben könne? Viele unterstellten dem Verfasser eine Neigung zum Fantasieren, zu unangemessener Rekonstruktion. Dieser Verdacht ist im Licht der Einzelheiten, die mir Moczarski erzählte, völlig unbegründet. Der Autor übertrug mir die moralische Pflicht, diese Frage richtigzustellen. Denn er selbst war nicht fähig, entsprechende Erklärungen abzugeben, was wohl nicht verwunderlich ist.
Moczarski unterstrich häufig, dass er zu jener Zeit kein gewöhnlicher Mensch gewesen sei. »Vielleicht war ich eher ein Tier«, meinte er. Ich bin da anderer Ansicht: Er war damals ein Stück über das gewöhnliche Menschsein hinausgewachsen.
Ein Mensch, der jahrelang auf seinen Tod wartet, lebt in anderen Dimensionen von Zeit und Raum. Um zu überleben und in seiner Dimension existieren zu können, schafft sich ein Eingeschlossener und Verurteilter eine andere Wirklichkeit. Wir kennen Ähnliches aus den Erzählungen vieler Häftlinge. Damit aber diese neue Wirklichkeit unabhängig von den Realitäten funktionieren konnte, bedurfte es einer großen inneren Stärke, über die sich der Gefangene wahrscheinlich überhaupt keine Rechenschaft gab.
Moczarski erkannte die sich der Zelle nähernden Aufseher an ihrem Geruch. Er hörte das Flüstern der Vernehmungsoffiziere, die sich bei geschlossenen Türen in einem Nebenzimmer unterhielten. Während seiner Berufungsverhandlung setzte er die Anwesenden in Erstaunen, als er auswendig Auszüge aus Akten zitierte, die fast tausend Seiten umfassten und die er nur einige Stunden im Gefängnis einsehen durfte. Er hatte sich viele, in die Hundert gehende Seiten eingeprägt. Natürlich büßte er in den folgenden Jahren diese erschreckende Begabung ein; seine Sinne, die nun nicht mehr einer Bewährung auf Leben und Tod ausgesetzt waren, kehrten zu ihrer normalen Trägheit zurück. In den »Gesprächen mit dem Henker« hat er nichts erfunden. Jedes Wort von Stroop, jede seiner Gesten, jeden Blick trug er behutsam in sich wie einen Schatz. Und auch das nach der Erinnerung Rekonstruierte, auch das später Verifizierte ist und hat die historische Wahrhaftigkeit des zuverlässigen Zeugen, der um objektive Wiedergabe bemüht ist.
Eines Tages sagte er mir ein wenig betroffen: »In mir steckt wohl irgendeine Krankheit. Jeden Satz von Stroop höre ich so deutlich, sogar die Betonung, als würde ich das alles vom Tonband abschreiben. Und ich sehe ihn vor mir, jede seiner Bewegungen, seinen Ausdruck, das Verziehen der Lippen, wie auf einer Filmleinwand ...«Ich glaubte ihm. Und ich bitte den Leser, ihm ebenfalls zu glauben. Dabei ist sein Buch weder eine historische Monografie noch ein Tatsachenroman. Es ist keine archivalische Dokumentation, sondern Dokument, historisch wahrhaftig auch dort, wo es in Details irrt und dort wo es Irrtümer der »handelnden Personen« wiedergibt oder wo sich im Nachhinein Perspektiven des Erlebten mit dem »Verarbeiteten« verbinden.
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