Zwischen den Sportfreunden und dem Club stand es schnell 10:0 für meinen Club, aber zufrieden konnte ich nicht sein: Das Verschieben der Viererkette klappte überhaupt nicht, die Räume zwischen den beiden Sechsern waren viel zu groß, und der neue Außenstürmer zog alleine seine Bahnen im Niemandsland des Fußballplatzes. Verdammt, es würde wieder eine schwierige Saison werden. Die paar angereisten Club-Fans bekamen von all dem nicht viel mit. Drüben, hinter dem haushohen Gitter des Sportplatzes, marschierte eine Gruppe von 20 Fans langsam um das Spielfeld. Der Eintritt für das Spiel kostete für Nicht-Mitglieder der Sportfreunde drei Euro, Spazieren war umsonst. Fußballbegeisterung treibt manchmal seltsame Blüten.
Meine Laune wurde währenddessen immer schlechter. Dieses Gebrabbel hinter mir war schlimmer als im Rheinland: Da Rhein, da raus, dachte ich mir manchmal. Schlimmer aber war, dass es schon 10:0 stand und der neue Koreaner erst eine Bude gemacht hatte, einen Abstauber. Ich presste meinen Bauch an die Absperrung, auf Höhe des Sechzehners. Der Koreaner: direkt vor mir. Hinter mir verteilten Alkoholiker und Freizeitler Runden voller Bierbecher an ihre Freunde. Der Koreaner lief in den Strafraum, der neue Außenstürmer schickte ihn mit seinem vermutlich ersten Ballkontakt. Aber der Schiri pfiff.
„Pass doch auf, du Blinder“, schrie ich.
Um mich herum wurde es still, ganz still.
„Das war nie Abseits! Nie!“
Der Linksaußen der Sportfreunde guckte zu mir rüber und machte den Scheibenwischer, dieser Eric Cantona von Unterreichenbach.
„Und das ist Rot!“, schrie ich, „Zuschauerbeleidigung! Ja, verdammt nochmal, wo bin ich denn hier gelandet?“
In dem Moment spürte ich eine warme Hand auf der Schulter.
„Junge, was ist denn los mit dir?“, wollte der Alte wissen. Schon ziemlich angezählt, der Gute, stand er auf wackligen Beinen vor mir.
„Verdammt“, sagte ich, „das wär’s gewesen. Sein Tor. Und was macht der Koreaner? Klagt nicht, motzt nicht, spielt den Ball seelenruhig zum Torwart zurück.“
Der Alte drückte mit seiner Hand fester zu, nickte, und ich wusste, was jetzt käme. Ich riss mich los: „Nein, nein, nein“, rief ich, „es ist nicht nur ein Spiel. Es ist auch nicht nur ein Testspiel.“
„Nein, Junge, ich weiß“, sagte der Alte mit ruhiger Stimme, „aber dein Koreaner ist Japaner.“
Ich weiß nicht, worüber ich mich mehr ärgerte: über den Alten, über den Japaner oder über mich, denn solche Faktenfehler passierten mir sonst nicht. Ich hatte genug gesehen. War ja so oder so immer das Gleiche mit den Neuverpflichtungen! Die Hoffnungen verblassten meistens sowieso, bevor man den Namen richtig aussprechen konnte.
Zwei-, dreimal im Jahr schaute ich bei meinen Eltern vorbei. Ich nutzte mein altes Zimmer auf dem Dachboden. An der Wand hing eine alte Kicker -Stecktabelle, der Club ganz vorne, Bayern Letzter in der zweiten Liga. Ehrensache. Die Stecktabelle war für mich in meiner Düsseldorfer Wohnung tabu. Klar, andere Erwachsene machten das, die fanden das cool. Aber ich bin nicht so der ironische Typ. Und wenn doch mal eine Frau vorbeikommen sollte, hatte ich auf so komische Augenzwinkereien keinen Bock. Die gehen meistens in die Hose.
Noch am selben Tag fuhr ich zurück ins Rheinland. Ich sagte meinen Eltern, ich würde dort eine Party geben, keine Ahnung, ob sie mir das glaubten. Zumindest guckten sie zufrieden, als ich das Haus verließ. Und als ob es nicht genug gewesen wäre, dass wir Unterreichenbach am Ende 14:0 geschlagen hatten, traf ich im Zug Christiane Würkl. So viel Aufregung reichte normalerweise für eine ganze Woche.
Ich hatte am Bahnhof gerade das frische Kicker -Sonderheft gekauft. Das Entfernen der Stecktabelle aus dem Heftinneren war jedes Jahr ein magischer Moment, auch wenn ich sie letztlich nicht aufhängen würde. Ich freute mich auf Stunden alleine mit den Spielern, mit ihren Gewichtsangaben, den bisherigen Vereinen und den möglichen taktischen Aufstellungen. Was sollte man auf Zugfahrten sonst auch machen? Fahrten in Zügen, in denen man die Fenster nicht mehr runterreißen konnte, hatten all ihre Romantik verloren. Das wussten vor allem Fußballfans von den Auswärtsfahrten. Stattdessen musste man sich auf einmal seine Sitznachbarn oder irgendwelche Tatort -Kommissare auf diesem Bahn-Heft angucken. Dann lieber die Zeugwarte und Medizinkoffer auf den Mannschaftsbildern.
Gerade, als ich die Vereinswappen aus der Tabelle herausknibbelte, kam Christiane Würkl mit ihrem Rollkoffer in mein Abteil und rief laut „Daaaaani“. Apropos Romantik. Wir waren beide in dieselbe Schulklasse gegangen, hatten Räuber und Gendarm gespielt. Doch spätestens, als Christiane einen Pferdeschwanz bekam und ich Akne, war mir klar, dass aus uns nichts werden würde. Später studierten wir in Erlangen. Ich Volkswirtschaftslehre, sie irgendwas mit Versicherungen.
Das letzte Mal hatten wir uns auf einer Uni-Party in der Mensa gesehen. Es lief Klaus Lages „Tausendmal berührt“. Ich hatte mich Zeile um Zeile dem Pulk, in dem Christiane tanzte, genähert. Und als die Passage mit den Büschen kam, in denen sich die beiden aus dem Lied früher versteckt hatten, zwinkerte ich ihr zu. Ab da zwinkerten mir in der Uni auch manchmal ihre Freundinnen zu, aber auf dieses Gekicher danach hätte ich gut verzichten können.
Im Zug redeten wir übers Leben: über Eheringe, Häuser und Kinder, alles Dinge, die wir beide nicht besaßen. Also wechselte ich das Thema und redete über meinen Job. Ich arbeitete damals in der volkswirtschaftlichen Abteilung einer Bank. Während ehemalige Kommilitonen von mir in London arbeiteten, sich „All-Nighter“ nannten, wenn sie in einer Nacht nicht mehr als eine Stunde geschlafen hatten, und ihre Mails mit „Another day in paradise“ unterschrieben, arbeitete ich, wenn es hochkam, 50 Stunden in der Woche, schmierte mir abends Butterbrote und hatte sexuelle Fantasien, während ich Maybrit Illner guckte. Das nannte ich dann „bunte Stunde“. Alles in allem nicht das Leben, mit dem man Mädchen beeindrucken konnte – weder im Bahnabteil noch irgendwo sonst. Dass ich leicht fränkelte, machte die Sache nicht besser. Wäre ich wenigstens Stürmer bei den Sportfreunden geworden, aber dafür war ich immer schon viel zu schmächtig.
Auf meiner Visitenkarte stand immerhin „Junior Researcher“, das klang irgendwie ganz gut, fand ich. Leider hatte bis dahin noch niemand danach gefragt. Nachdem auch Christiane nicht wahnsinnig angetan von meinem Job schien, schob ich ihr meine Karte einfach unaufgefordert zu. Sie sagte nur „Danke“ und „Jürgen Klopp“ und deutete auf mein Kicker -Sonderheft.
Ich sagte, dass ich als „Glubberer“ so meine ganz eigene Meinung zu Borussia Dortmund hätte. Und dann sagte Christiane etwas, was sie besser nie gesagt hätte. Etwas, was besser überhaupt niemand jemals irgendwo sagen sollte: „Es ist ja auch nur ein Spiel.“ Ich versuchte, ruhig zu bleiben, ich guckte auf meine Visitenkarte, auf meine Stecktabelle, auf die Vereinswappen, überall hin, nur nicht in ihr Gesicht. Ja, dachte ich, wenn das Leben nur das Leben und der Tod nur der Tod ist, dann ist vielleicht Fußball auch nur Fußball. Aber es ist sicher niemals nur ein Spiel. Aber das konnte ich ihr unmöglich sagen.
„Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst“, sagte ich. Ich fand es wichtig, auch in brenzligen Situationen sachlich zu bleiben.
Sie sagte „okay“ und dass sie sich mal einen Kaffee holen müsse, ganz schnell, und ob ich bei Facebook sei. Dann zog sie mit versteinerter Miene und ihrem Rollkoffer davon. Ich wusste, dass ich wohl lieber meine Klappe gehalten hätte. Aber was wäre die Alternative gewesen? Mit ihr über die Champions League zu reden und am Ende noch über die Fünfjahreswertung? Dann doch lieber über Bausparverträge oder Eheringe. Mein Motto war immer: Lieber ein Auswärtsspiel verlieren als den Stolz. Bei Heimspielen wiederum hing das ganz vom Tabellenstand ab. Man kann nicht alles haben, das hatte ich schon früh kapiert. Die Sportfreunde schlagen und am selben Tag noch Christiane Würkl abschleppen – nein, es gab Grenzen.
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