Dieser neue Umgang mit den vorhandenen Lebensmitteln eröffnete ganz neue Möglichkeiten der Ernährung und dehnte auch die zeitlichen Bedingungen des Verzehrs des gehaltenen Schlachtviehs aus. Mit den verschiedenen Kulturen entwickelten sich dann während der Eisenzeit auch verschiedenste Speisepläne, der Zugriff auf Lebensmittel veränderte sich ebenso wie die genutzten Produkte selbst.3 Durch Kontakt zwischen den Kulturen wurden verschiedene Prozesse angestoßen, auch im Bereich der Ernährung. Entwicklungen, die sich bis heute im Rahmen von Globalisierung und Migration beobachten lassen: So führten zum Beispiel die Handelsbeziehungen und kolonialen Bemühungen Großbritanniens im 19. Jahrhundert dazu, dass indische Gerichte, wie das Curry, den Weg auf die Britischen Inseln fanden. Von dort gelangten sie beispielsweise wiederum auf westfälische Speiseteller, wie sich unter anderem in Henriette Davidis’ Praktischem Kochbuch 4 nachvollziehen lässt: Curry findet sich in der Ausgabe von 1887, herausgegeben von Luise Rosendorf, die das Kochbuch nach dem Tod von Henriette Davidis als erste weitere Autorin weiterführte.5 In die Erstausgabe von 1845 hatte zwar Reis schon Eingang gefunden – Curry jedoch noch nicht. Der Blick über den Tellerrand erfolgte bei der westfälischen Kochbuchautorin im Wortsinn – in diesem Fall gen Großbritannien. Dessen internationale Bestrebungen hatten eine Art Vorbildcharakter, und die damit vermeintlich verbundene Exklusivität sowie ein erstrebenswert erscheinender und im Rahmen der eigenen (Koch-)Möglichkeiten greifbar werdender Exotismus konnten durch Kochrezepte in den eigenen provinziellen Speiseplan eingebunden werden. Die Imitation der insbesondere zu dieser Zeit geschätzten britischen Küche diente somit dazu, den im Vergleich zu den Referenzgesellschaften teils als rückständig empfundenen Alltag aufzuwerten und in ein exklusiveres Licht zu stellen. Wie sich ebenfalls diachron in den verschiedenen Ausgaben des Praktischen Kochbuchs von Henriette Davidis ablesen lässt, changierte eine Variante des Sonntagsbratens im Laufe dieser Entwicklungen – Orientierungen an der britischen und französischen Küche folgend – vom Beef à la mode über das verballhornte Bœuf à la mode hin zum, dann schon fast profan anmutenden, Schmorbraten. Eine Benennungshistorie, die gen Ende des 19. Jahrhunderts eine Rückbesinnung auf den Eigenwert der deutschen Sprache erkennen lässt – ganz im Sinne des zunehmenden Nationalismus der Zeit.
Gibt der Schmorbraten aktuell keinen Anlass (mehr?) zur Diskussion in puncto Namensgebung, ist es heute der Diskurs um die Benennung von Fleischersatzprodukten, der unter anderem aufzeigt, dass gerade Fleisch als Wohlstandsindikator gelten kann. Bei der Analyse menschlichen Fleischkonsums zeigen sich dabei verschiedene Merkmale, die Rückschlüsse auf die jeweilige Gesellschaft zulassen. So empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) aktuell beispielsweise, die Fettzufuhr, vor allem gesättigter Fettsäuren, wie sie in Fleischprodukten vorkommen, zu reduzieren, da die meisten Männer und Frauen in Deutschland die empfohlenen Tagesmengen überschreiten.6 Blickt man in der Geschichte der Menschheit zurück, lässt sich an dieser Empfehlung erkennen, an welch luxuriösem Punkt wir in unserer kulinarischen Historie angekommen sind. Denn im deutschsprachigen Raum war Fett bis in die Nachkriegsjahre des Zweiten Weltkriegs ein wertvolles Gut und somit auch ein wichtiger Anteil am Fleisch. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass der physiologische Brennwert von Fett höher liegt als der vieler anderer Lebensmittel. Ergo ist bei der Aufnahme einer gleichen Menge von Fett und beispielsweise Kartoffeln die Energieaufnahme bei Ersterem höher. Fett als Teil der Ernährung trägt somit zu einer effizienteren Energiezufuhr bei.
Ruft man sich die eben erwähnten Jäger und Sammler ins Gedächtnis, ergibt es Sinn, dass die Zunahme von Fleisch in der Ernährung in der Evolution fast schon revolutionär war, da sich daraus in gewisser Weise eine Aufwandskaskade ergibt. Wer Fleisch isst, nimmt ein gewisses Maß an Energie zu sich. Bestenfalls muss für die Beschaffung des Fleisches dabei weniger Energie aufgebracht werden als für die gleiche Menge an Energie in Form von beispielsweise Kohlenhydraten. Somit ist fettes Fleisch lange Zeit ein hohes und erstrebenswertes Produkt. Das ändert sich erst, als es beginnt, im Überfluss vorhanden zu sein. Seit der sogenannten Fresswelle in den 1950er-Jahren wird immer mehr Wert auf eine fettreduzierte Ernährung gelegt – das Ergebnis eines Zusammenspiels industrieller Prozesse, die zu einer nahezu ganztägigen Verfügbarkeit sämtlicher Lebensmittel führten, und veränderter Arbeitsbedingungen sowie Alltagsgestaltungen: Wer den ganzen Tag am Schreibtisch sitzt und den Computer bedient, muss in der Regel weniger Energie zu sich nehmen als eine Person gleichen Grundbedarfs, die einer körperlich anstrengenden Arbeit nachgeht. Gleichzeitig fällt es im Schlaraffenland der Supermärkte immer schwerer, den Fokus auf gesunde Ernährung zu halten. Aus dieser Entwicklung ergibt sich auch die logische Konsequenz, dass fettreduzierte Ernährung nun das neue Distinktionsmittel ist, oftmals gepaart mit weiteren Entwicklungen zum Thema healthy food und einem sportiven Lifestyle.
Du bist, was du isst
Doch zurück zum Fleisch und zu einer der ersten Fragen, die meist gestellt werden, wenn die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema zur Sprache kommt: »Wie viel Fleisch wird in Deutschland im Schnitt konsumiert?« Gemeint ist meist die Verzehrmenge pro deutschem Kopf und Jahr. Die Reaktionen auf die Antwort sind oftmals ein erstaunter Blick und Sätze wie: »Oh, das ist ganz schön viel.« Und rein sachlich gesehen sind 59,5 Kilogramm im Jahr 2019 tatsächlich nicht wenig, zumal der Pro-Kopf-Verbrauch von Fleisch im selben Jahr bei 87,8 Kilogramm lag 7 – doch woran wird das gemessen?
Lassen wir die Forscherbrille auf und gucken in der Geschichte zurück: Im Vergleich zum Vorjahr sank der Fleischverzehr pro Person im Jahre 2019 mit 59,5 Kilogramm um 2,5 Prozent. Und schaut man rund 500 Jahre zurück, zeigt sich, dass die derzeitigen Werte im Vergleich rückläufig sind: Für das ausgehende Mittelalter gehen einige Forscher tatsächlich von bis zu 100 Kilogramm Fleisch pro Kopf und Jahr aus. Ob diese Zahl tatsächlich so haltbar ist, bleibt fraglich. Starke Schwankungen des Fleischkonsums nach Einkommen, Wohnort und -region sind zumindest anzunehmen. Schaut man dagegen auf besser verifizierbare Zahlen, etwa für das beginnende 19. Jahrhundert mit etwa 15 Kilogramm pro Kopf im Jahr, wird deutlich, dass der Fleischkonsum insgesamt in der Geschichte starken Schwankungen unterliegt. Klimatische Bedingungen, gesellschaftliche Prozesse sowie politische Entscheidungen tragen und trugen hierzu maßgeblich bei. Dabei avancierte Chicago im 19. Jahrhundert mit seinen Union Stock Yards zur weltweit führenden Stadt in der Fleischindustrie. Eine Entwicklung, die die Auswirkungen der Industrialisierung auf Fleischkonsum und -produktion verdeutlicht. Eine fast schon fordistisch anmutende Schlachtung am Fließband, neue Kühlmöglichkeiten und ausgebaute Transportwege ließen Chicago dabei zu einem Vorbild der Schlachtindustrie heranwachsen. Upton Sinclair gibt in seinem 1905 erschienenen Roman The Jungle ausführlich Einblick in die Schlachtungsbedingungen vor Ort.
Schließlich fanden die industrielle Schlachtung und damit zusammenhängende, nun industriell geprägte Wertschöpfungsketten den Weg auch in die Städte Europas. Geschlachtet wurde immer weniger von Metzgern in Hausschlachtung oder im eigenen Betrieb. Es entstanden große Schlachthöfe, meist verkehrsgünstig an der Bahn und am Rand der Städte gelegen. Kulturhistorisch zeigt sich hier, wie die Schlachtung, und somit der Tod, immer stärker aus den Städten selbst und somit auch aus dem Alltag der Menschen verschwand. Mit dieser Verdrängung ging eine gewisse Tabuisierung des Themas einher, deren Auswirkungen nicht nur bis heute auf den Tellern landen, sondern zu denen sich, gerade aktuell, auch entsprechende Gegenbewegungen bilden. Ethical butchers, ganzheitliche Fleischverwertung from nose to tail oder die Rückbesinnung auf regionale und saisonale Küche seien an dieser Stelle nur als einige Formen genannt.
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