»Hm, das ist mir völlig entfallen. Außerdem sprachen wir ja nicht von mir, sondern von Asger.«
»Allerdings, aber wenn du aus der Fassung gerätst, weil dein fast fünfzehnjähriger Sohn sich einen kleinen Schwarm zugelegt hat, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als dich daran zu erinnern, daß du auch einmal in dem Alter gewesen bist.«
Der Pfarrer zeigte beleidigt auf das Aufsatzheft, das seine Frau noch immer in der Hand hielt. »Du willst doch damit hoffentlich nicht andeuten, daß ich selbst derartigen Kitsch geschrieben habe?«
»Möchtest du das kleine Gedicht sehen, von dem ich dir eben erzählte?« lächelte sie. »Ich habe es natürlich aufgehoben.« – »Nein! Vielen Dank!«
Sie lachte vergnügt. »Es ist wirklich ein hübsches Gedicht – so romantisch –, wenn du vielleicht auch nicht die gleichen dichterischen Fähigkeiten hattest wie Asger.«
»Dichterische Fähigkeiten!« Der Pfarrer griff sich verzweifelt an den Kopf. »Es ist doch wohl nicht dein Ernst, daß du . . .«
»Doch«, nickte seine Frau, »ich finde den Vers wirklich sehr hübsch. Etwas unbeholfen vielleicht, aber dafür ist er sicher sein erster Versuch. Auf jeden Fall finde ich es nicht recht von dir, darüber zu lachen. Du hättest es überhaupt nicht lesen sollen.«
»Nein, das gebe ich zu, und deshalb werde ich das Heft sofort wieder in die Schublade legen und so tun, als hätte ich nichts gesehen.« Er machte eine Bewegung, um das Heft an sich zu nehmen, griff aber in die Luft. »Nein«, widersprach seine Frau, »nachdem Asgers Geheimnis jetzt sowieso verraten ist, möchte ich auch wissen, was er noch geschriebehat. Schließlich hat niemand ein größeres Recht darauf, es zu lesen, als seine Mutter.« Sie setzte sich und blätterte die erste Seite um:
Wie ein Reh springst du dahin
und gehst mir nicht mehr aus dem Sinn.
Wie das Schilf am See so lind
wogt dein Haar im Abendwind,
und es glitzert darin Schneegeflimmer
wie ein flüchtger Sternenschimmer.
Wirst du bei mir sein, du liebe Lone,
wenn einmal hier am See ich wohne?
Beim Lesen des Gedichtes war Frau Hanner nachdenklich geworden. Sie las den Vers noch einmal, dann sagte sie: »Ich glaube, ich weiß, für wen Asger schwärmt.«
»Wieso?« Der Pfarrer machte ein verblüfftes Gesicht. Doch dann schien ihm plötzlich ein Licht aufzugehen. »Ah, du meinst, es handelt sich um die junge Dänin, die drüben in der Pension wohnt und der Asger gestern abend unbedingt die Schier einfetten mußte? Übrigens ein nettes, lebendiges Mädchen, diese Lone. Aber Asger verliebt? Nein, da kann ich nur lachen. Asger, der sich immer darüber erhaben gefühlt hat, ›mit Langhaarigen zu spielen‹? Außerndem denkt er nur an seine Angelei und seine Schier oder was Jungen in dem Alter eben sonst noch treiben. – Liebste Frau, ich fürchte, in diesem Falle bist du ein wenig zu romantisch.«
Er erhob sich und sah lächelnd zum Fenster hinaus, vor dem sich die großartige, schneebedeckte Landschaft ausbreitete. »Was meinst du«, er faßte seine Frau um die Schultern, »ob es in der Welt wohl noch einen zweiten Pfarrhof gibt, der so schön gelegen ist wie unserer? Diese Aussicht ist mir jeden Tag von neuem eine beglückende Freude. Und wie die Jugend sich hier tummeln kann.« Er zeigte auf eine Gruppe von Schiläufern, die in der Ferne als kleine schwarze Pünktchen auf dem weißen Schnee zu erkennen waren, der zwischen blauen Bergschatten in der Sonne glitzerte, daß es einem in die Augen schnitt.
»Habt ihr hier in Norwegen immer so gutes Wetter?« fragte Lone etwas außer Atem einen rothaarigen Jungen, der neben ihr her lief.
Bjarne wandte ihr sein sommersprossiges Gesicht zu. »Ja, fast immer.«
»Dann seid ihr zu beneiden. Daheim in Dänemark haben wir immer soviel Wind und Regen.«
»Bei euch muß es doch auch viel Schnee geben«, mischte sich Asger ins Gespräch.
»Wie kommst du darauf?«
»Sonst würdet ihr doch nicht so gut Schi laufen können, wie du es kannst.«
»Ach, das sagst du ja bloß so«, lachte Lone. »Aber bei uns hat man auch kaum Gelegenheit zum Schilaufen, weil Dänemark so flach ist. – Kommt, wir nehmen diesen Hang hier.«
Sie stieß sich mit den Stöcken ab und sauste in die Tiefe, daß ihr braunes Haar wie eine Fahne hinter ihr her flatterte.
Die dänischen Kinder waren in den Osterferien von ihrer Schule aus nach Norwegen gekommen, eine ganze Klasse. Das war so eine Art Austausch, denn die entsprechende Klasse der norwegischen Schule wollte die Sommerferien in Dänemark verbringen.
Lehrer Frandsen und Fräulein Kaer, als Leiter der dänischen Schulkinder auf dieser preiswerten Bergtour in Norwegen, hatten keine leichte Aufgabe übernommen, denn das Gelände war unübersichtlich, und die Kinder waren nicht leicht beisammenzuhalten. Die dänischen Gäste wollten natürlich nicht hinter ihren norwegischen Kameraden zurückstehen, obwohl die Norweger viel geübtere Schiläufer waren und viel vertrauter mit dem zerklüfteten und abwechslungsreichen Gelände.
»Wenn nur einige der Kinder nicht so leichtsinnig wären«, sagte Fräulein Kaer besorgt. »Sie reißen die anderen mit sich. Und das Gelände hier ist nun eben ganz anders als daheim in Dänemark; wenn die Kinder das bloß begreifen wollten. Es wäre schrecklich, wenn einem von ihnen etwas passierte; und wir haben schließlich die Verantwortung für sie.«
»Ja«, flüsterte Lehrer Frandsen, der von dem dauernden Rufen heiser wie ein Rabe geworden war. Er hatte sich jetzt eine Trillerpfeife gekauft; aber zu seiner Enttäuschung zeigten die Kinder vor ihr keinen größeren Respekt, als sie vor seiner ermahnenden Stimme gehabt hatten. »Sie wissen überhaupt nicht, wie gefährlich es ist, sich einfach so Hals über Kopf die steilen Hänge hinunterzustürzen.« Er zeigte auf ein Mädchen in rotem Schianzug, das wie ein Komet talwärts sauste. Sie würde bestimmt weder bremsen noch die Richtung ändern können, falls ihr plötzlich etwas in den Weg kam. Da, jetzt schlug sie auch schon drei, vier Purzelbäume, so daß der Schnee in einer Wolke um sie aufwirbelte.
»Das ist natürlich Lone«, schnaufte Fräulein Kaer, als sie sah, wie zwei Jungen herbeisprangen, der gestürzten Schiläuferin auf die Beine halfen und ihr den Schnee abklopften.
Lone lachte. »Da könnt ihr selbst sehen, was für eine Meisterläuferin ich bin.«
»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie komisch du ausgesehen hast.« Bjarne schlug sich vor Lachen auf die Schenkel. »Du bist ja über deine eigenen Beine gefallen.«
»Da gibt’s überhaupt nichts zu lachen«, sagte Asger. »Das kann jedem passieren, auch dir. – Komm, Lone, ich werde dir zeigen, wie man bremsen muß, damit sich die Schier nicht kreuzen.«
Lone schüttelte den Schnee aus den Haaren. Als sie sich mit den Stöcken erneut abstieß, lachte sie noch immer. »Ich habe mich aber auch wirklich ungeschickt angestellt.«
In den wenigen Tagen, die sie jetzt in Norwegen war, hatte sie schon so viel Farbe bekommen wie daheim am Strand in einer ganzen Woche.
Lehrer Frandsen setzte die Trillerpfeife an den Mund und blies aus allen Kräften, so daß seine Backen wie zwei aufgepustete Ballons aussahen. Gleichzeitig winkte er mit den Armen, um den Kindern klarzumachen, daß sie sich versammeln sollten. Es war ein Uhr, und er selbst hatte einen Bärenhunger. Es war Zeit, zum Essen zu gehen.
Außer Atem und mit glühenden Wangen kamen die Kinder von allen Seiten angelaufen. Fräulein Kaer zählte an den Fingern ab – ja, sie waren vollzählig.
»Was meint ihr, Kinder?« fragte Herr Frandsen. »Sollen wir zu der kleinen Berghütte gehen, wo wir gestern gegessen haben, oder wollt ihr lieber bleiben, wo ihr seid?«
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