1 ...6 7 8 10 11 12 ...22 Zur Gattung des MtEv. Ein Argument gegen die These, dass die Evangelien an einzelne Gemeinden gerichtet sind, lässt sich speziell gegen die transparente Interpretationsweise anführen: Im Gegensatz zu (den ntl) Briefen, in denen die Adressaten und ihre Situation häufig explizit benannt sind, gehören die Evangelien zu einer Gattung, bei denen das eben nicht der Fall ist.9 Luz hatte in seinem Artikel „Fiktivität und Traditionstreue im Matthäusevangelium im Lichte griechischer Literatur“ (1993) festgestellt, dass es auch in der griechischen Literatur Werke gebe, die „doppelbödig“ seien und wie das MtEv allegorisch gelesen wurden.10 Tobias Hägerland widersprach dem in „John᾽s Gospel: A Two-level-drama?“ (2003): die allegorische Lesart gelte nur für griechische Romane, die sich aber von den ntl Evangelien deutlich unterschieden.11 Ebenso wie Richard Burridge oder Dirk Frickenschmidt stuft Hägerland die Evangelien als βίοι bzw. als antike Biographien ein.12 Marius Reiser dagegen sieht nur wenige Analogien zwischen den Evangelien und paganen Biographien. S.E. sind die Evangelien eher mit jüdischen Werken (des AT) vergleichbar, solchen die ebenfalls „doppelbödig“ sind.13 In diese Richtung weist auch Armin D. Baum mit seiner These, dass die Evangelien am ehesten mit den biographischen Abschnitten in atl und rabbinischen Schriften vergleichbar sind.14 Sollte Baums Kategorisierung zutreffen, so wäre damit allerdings nicht gesagt, dass diese Gattung eine Doppelbödigkeit kennzeichne und eine allegorische Lesart gestatte oder gar notwendig mache.
Zur Existenz externer und interner Evidenzen . Für eine präzise und historisch gesicherte Rekonstruktion der sogenannten Gemeinde des Mt fehlen externe Evidenzen. Deswegen ist der Mt-Forscher gezwungen sich mit textinternen Evidenzen zu begnügen. Das aber ist eine schwierige Ausgangsposition, weil jegliches Gemeindebild auf einem hermeneutischen Zirkelschluss basiert und lediglich als ein hypothetischer Rekonstruktionsversuch angesehen werden kann.15 Es ist zwar unstrittig, dass das literarische Werk und das soziale Umfeld, in dem es entsteht, sich wechselseitig prägen, aber es bleibt häufig unklar, ob ein Element des literarischen Werkes in Bezug auf die Gemeindesituation welt bildend oder welt abbildend ist, oder um es auf Luz᾽ Unterscheidung anzuwenden: ob eine mt Passage „indirekt“ oder „direkt“ transparent ist.16 Auch das Bemühen, entweder von der redaktionellen Veränderung oder von der redaktionellen Bestätigung des Traditionsstoffs auf den gemeindlichen status quo zu schließen, den der Redaktor entweder verändern oder bestätigen möchte, resultiert nicht selten in mehrdeutigen oder gar sich widersprechenden Gemeindebildern.17
Zu den Personenzuweisungen innerhalb der Mt-Forschung . Die nicht unerheblich divergierenden Personenzuweisungen in der Mt-Forschung wecken Zweifel an der Plausibilität einer Interpretationsweise, bei der der Text ein „Fenster“ ist:18 Das jüdische Volk steht entweder für judenchristliche Gemeindeglieder (so z.B. Minear oder Thysman), für heidenchristliche Gemeindeglieder (so z.B. Gundry19) oder für das jüdische Volk, unter dem die Gemeinde versucht zu missionieren (so z.B. Cousland). Die Jünger stehen entweder für die Gemeindechristen (so z.B. Luz, Bornkamm, Hummel u.v.a.) oder Gemeindeleiter (so z.B. Thysman oder Minear). Petrus steht entweder für den typischen Gemeindechristen (so z.B. Schweizer oder Trilling) oder für den Gemeindeleiter (so z.B. Overman oder Frankemölle). Die „Schriftgelehrten“ stehen für christliche Schriftgelehrte und Lehrer in der Gemeinde (z.B. Trilling), die „Propheten“ stehen für christliche Propheten, usw. Frankemölle wiederum leugnet überhaupt die Existenz von Lehrern oder Propheten in der Gemeinde, sie sind s.E. historische Größen. Diese Liste der divergierenden Personenzuweisungen ließe sich fortsetzen.
Zu den Beschreibungen der Gemeindesituation innerhalb der Mt-Forschung. Die schwierige Aufgabe, die analogen Elemente zu bestimmen, d.h. die transparenten Elemente von den nicht-transparenten Elementen zu trennen, betrifft nicht nur Personen, sondern auch Situationen, die im MtEv beschrieben werden. Diese fehlende Konkretheit lässt sich sehr gut an Bornkamms Sturmstillungs-Auslegung und am folgenden Vergleich zwischen Bornkamms und Luz᾽ Interpretationsweise veranschaulichen. Bornkamm hatte die mt Erzählung von der Seenot der Jünger in ihrem Boot (Mt 8,23ff) in hermeneutisch-allegorischer Weise auf die mt Kirche (= Schiff) und ihre Nöte (= Sturm) gedeutet. M.E. ist das aber eine unbegründete Analogie: Warum sollte das Bild „Schiff“ auf die Kirche verweisen, war das etwa eine schon im 1.Jh. bekannte Metapher? Wäre es nicht ebenso denkbar, dass der Bezug zur Erzählung wesentlich konkreter gewesen war, d.h. andere Elemente, als die von Bornkamm angenommenen, könnten transparent sein? Rein hypothetisch betrachtet könnte der Evangelist innerhalb der Gemeinde eine Gruppe von Berufsfischern vorgefunden und sie mittels dieser Sturmstillungs-Perikope aufgefordert haben, sogar bei Sturm beruhigt auf See zu fahren, weil der auferstandene Jesus sie stets vor dem Untergang beschützen würde. Welche Kriterien würde Bornkamm anführen können, dass sein Blick hinter die „Kulissen“ der richtigere ist (und die Not der Jünger stärker abstrahiert werden muss, um eine Not im allgemeinen Sinne zu beschreiben, bestehend aus Konflikten, allgemeinen Sorgen usw.)?20 Eine nicht unübliche Deutung des redaktionell auffälligen „Kleinglaubens“ im MtEv kann veranschaulichen, dass man sich die Konkretheit des aktuellen Bezugs zur Heilungserzählung immer unterschiedlich stark ausgeprägt denken kann. Luz hatte die Betonung des Glaubens (gegen den Kleinglauben) in den Heilungsgeschichten als Reaktion auf eine besondere aktuelle Gemeindesituation gedeutet, nämlich das Ausbleiben von Geist-Erfahrungen bzw. von Wundern trotz ihres Gläubig-Seins. Also habe Mt eine begriffliche Unterscheidung geschaffen, indem er „Kleinglaube“ als Kennzeichen fehlenden Vertrauens, bei gleichzeitigem Glauben an Jesus, einführte.21 Luz’ Erklärung, dass Wunder ausblieben, scheint weniger stark vom Text abstrahiert (oder allegorisiert) zu sein, als Bornkamms Erklärung, dass die Gemeinde unter Sorgen und Nöten litt.
Zur Konsistenz innerhalb einzelner Forschungsarbeiten . Ab und an fehlt innerhalb einer transparenten Interpretation die innere Konsistenz . Frankemölle z.B. scheint konsequent vorzugehen, wenn er die Unterschiede der Personen untereinander, die sich auf der Textebene zeigen, analog auf die Gemeinde überträgt: Petrus muss für den Gemeindeleiter stehen, weil die Jünger bereits den Platz für die Gemeindechristen besetzen. Z.B. folgt Overman zwar Frankemölle in dieser Personenzuweisung, aber er ist inkonsequent, weil die Jünger in einem Fall für die gesamte Gemeinde stehen, im anderen Fall für einzelne, besonders autorisierte Lehrer, die die Gemeinde belehren.22
Zur Bedeutung des Kontextes für die Referenzbestimmung. Das nicht selten anzutreffende Argument, dass ein bestimmter Begriff wie z.B. „Jünger“ Transparenz schaffe, ist textlinguistisch fragwürdig. Denn der jeweilige textuelle Kontext entscheidet, welchen semantischen Gehalt ein Begriff hat und auf welchen Referenten der Begriff bezogen ist. Man darf nicht stattdessen eine pauschale Zuordnung vornehmen, dass der semantische Gehalt eines Begriffs in jedem Kontext derselbe sei. Beim Begriff „Jünger“ sollte man sich also jeweils fragen, ob er einen idealen oder allgemeinen oder einen konkreten „historischen“ Jünger beschreibt. Z.B. ist es in Mt 28,19 offensichtlich, dass von allgemeinen Personen die Rede ist, die durch die Mission der konkreten historischen „elf Jünger“ (28,16) zu „Jüngern“ werden, denn sie stammen aus „allen Völkern“ und sind unbestimmt. Ebenso ist in 12,46-50 ein „idealer“ Jünger gemeint. Deswegen darf man aber nicht schlussfolgern, dass automatisch an allen anderen Jünger-Stellen des MtEv diese allgemeinen Jünger, evtl. inklusive späterer Gemeindechristen, gemeint seien. Eine ähnliche pauschale Übertragung findet sich bei Luz’ Auslegung von Mt 10.23 Seine Argumentation verläuft so: Weil der Begriff „Jünger“ (auch an anderer Stelle) transparent sei, d.h. einen allgemeinen Gemeindechristen adressiere, stehe er im Kontrast zum Begriff „Apostel“. Deswegen wolle Mt keine vergangene Geschichte der Zwölf erzählen, sondern die Gemeinde adressieren. An diese Argumentation lässt sich die kritische Rückfrage richten: bezieht sich der Begriff „Jünger“ in diesem Kontext nicht eindeutig auf die Referenzgröße der Zwölf, die hier „Jünger“ und „Apostel“ genannt werden?24 Auch der Begriffswechsel vom mk „Zwölf“ zum mt „Jünger“ ist für sich allein noch kein Beweis für den Gegenwartsbezug von „Jünger“.25 Ebenso wenig wie ein Begriffswechsel von „Jünger“ zu „Zwölf“ für sich allein (!) ein Beweis für die „Historisierung“ von „Jünger“ wäre. Das gilt auch für die Begriffe „Apostel“,26 „Brüder“ und „Kleine“ oder für das Verb „zu Jüngern machen“. Der Kontext entscheidet, wer jeweils gemeint ist. Der Begriff an sich schafft keine Transparenz.27 Deswegen sollte man zurückhaltend sein mit der Aussage, dass „Jünger“ ein ekklesiologischer terminus sei, selbst wenn sich der Gemeindechrist (normalerweise?) mit den Jesusjüngern identifizieren dürfte. Einerseits belegen die 28 Vorkommen von μαθητής und das einmalige Vorkommen von μαθητεύω in Apg, dass auf diese Weise die „normalen“ Anhänger Jesu bzw. Angehörige der christlichen Gemeinden bezeichnet wurden (wohl in Entsprechung zu μαθητής in LkEv). Andererseits fehlt μαθητής interessanterweise als Bezeichnung der Christen in den Schriften des NT, die auf Apg folgen. Jedenfalls ist festzustellen, dass es keine externen Quellen gibt, die belegen, dass die Leser des MtEv tatsächlich „Jünger“ genannt wurden.
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