Handel, Politik, Religion und Wissenschaft dürften somit die vielfältigen Reisemotive Münzers charakterisieren. Münzers Wissensdrang war groß, er ging aber noch zuweilen über diese hier kurz skizzierten Interessen hinaus, denn der Nürnberger Arzt beschreibt – was in dieser Zeit noch die Ausnahme war – häufig und detailliert die Landschaft. Dazu traten religiöse Gebräuche – Reliquienkult und Mönchsgemeinschaften –, fremde Religionen, künstlerische Werke, Exotica, Universitäten, Apotheken, Spitäler und praktische Dinge, die seine Aufmerksamkeit erheischen. Dies reichte bis zur Organisation des Abwassersystems in Barcelona. Gewiss spielen auch Empfänge bei Hof eine Rolle, aber weniger als in den anderen Reiseberichten von Adligen und Patriziern.
Dass Münzer das viele Neue häufig mit Bekanntem aus seiner Heimat verglich entspricht dem Bedürfnis, Unbekanntes zu begreifen, also auf den Begriff zu bringen8. Vergleiche finden sich zuhauf in Münzers Bericht. Münzer hat sich aber nicht nur deshalb auf den Weg gemacht, um sein bisheriges Wissen durch Anschauung zu bestätigen oder zu erweitern, wenn auch die curiositas , die manche für ein Merkmal der beginnenden Neuzeit halten, in seinem Itinerarium zuweilen erkennbar ist.
Dies erschließt vielleicht auch sein Interesse an fremden Religionen. Im alten Reich Granada lebten nach der Eroberung durch die Katholischen Könige 1492 noch zahlreiche Muslime: Gebetsriten, Bestattungen und anderes interessieren den Nürnberger Arzt. Dieses Interesse wurde in Zaragoza fortgesetzt, denn dort erläuterte ihm angeblich ein „Priester“ der Muslime, wie es mit der Vielehe stehe. Trotz mancher Kritik lobte der Nürnberger Arzt aber die Arbeitskraft der Muslime, die ihm sogar in manchen Gegenden unentbehrlich erschien. Ganz anders war seine Haltung zu den Juden oder den als „Marranen“ bezeichneten neu getauften sogenannten Conversi , die Münzer am Mittelmeer, aber auch in Lissabon und immer wieder erwähnte und deren Ausweisung er kommentierte: Hier teilte er ganz die rigorose Politik der Katholischen Könige und war in seiner Meinung vielleicht auch von ähnlichen Tendenzen im Reich zu Ende des 15. Jahrhunderts mitbestimmt.
Aber wie hielt er es mit der eigenen Religion? Was bedeutete ihm der kritische Vergleich von Reliquien? Wie können, so fragte sich nicht nur Münzer, sondern später auch Arnold von Harff, Jakobusreliquien in Toulouse vorhanden sein, wo doch der gesamte Leichnam in Compostela ruht? Die Kritik am Reliquienwesen ist alt, gewann aber neue Aktualität und hat später auch Martin Luther zu seiner Kritik an der Compostelafahrt geführt9. In Compostela bemängelte Münzer, dass er den Leichnam des Apostels nicht sehen konnte und fügte seufzend – oder ironisch? – hinzu, dass wir dies alles nur glauben könnten10. Der praktische Pilgerbetrieb in Compostela schien Münzer aber vor allem zu stören, und ähnlich kritisch vermerkt er zur Aachenfahrt, dass die Pilger dort mit viel Geld kämen und mit leerer Börse heimkehrten11.
Es wäre einseitig, nur die kritischen Bemerkungen Münzers aufzugreifen: Pilgerorte wie St-Maximin, Les Saintes-Maries-de-la-Mer, Montserrat, Santiago de Compostela, Guadalupe, Toulouse, Tours oder Saint-Josse-sur-Mer fanden ebenso wie Aachen, Köln oder weitere bedeutende, auch künstlerisch interessante Klöster sein Interesse. Er wollte eben alles besuchen und sehen, was es zu sehen gibt. Und wo man den Reisenden Reliquien am Altar, in der Sakristei oder Schatzkammer zeigte, vermerkte Münzer dies gerne, manche Bemerkungen deuten darauf hin, dass er als Gedächtnisstütze vielleicht wie in Toulouse oder Tours einen Reliquienzettel erhielt oder abschrieb. Oft scheint er sich sogar mehr für den materiellen als für den spirituellen Wert zu interessieren, Reliquien und besonders Reliquiare waren schließlich zu teuren Kunstwerken geworden. In vielen Dingen sah Münzer aber auch auf den größeren politischen und kulturellen Kontext religiöser Phänomene. Deutlich wird dies zum Beispiel an den Gebräuchen in Saint-Josse-sur-Mer12, aber nicht nur dort. Wenn er in Santiago de Compostela Passagen des Liber Sancti Jacobi abschrieb, interessierten ihn vor allem die aus der Epik bekannten angeblichen Heldentaten Karls des Großen in Spanien. Aber er wollte auch mehr über einen so wichtigen Kult wie den Jakobuskult wissen – wenn er zum Beispiel das Kapitel über die Pilgermuscheln in seinen Bericht integrierte.
In vielen Abschnitten beschritt die vierköpfige Gruppe Wege, die heutige Pilger wieder für sich entdeckt haben: Neben dem klassischen „Camino francés“, den er nach seiner Abreise aus Compostela bis zu den Bergen von León nutzte, folgte er von Almería nach Granada dem heutigen „mozarabischen Weg“, in Portugal auch dem sogenannten „Camino portugués“. In Frankreich reiste er nicht nur auf dem Hinweg von Arles bis Narbonne, sondern auch bei seinem Weg von Poitiers bis Paris und folgte damit der sogenannten Ober- und Niederstraße. Erst danach entfernte sich Münzers Route – wahrscheinlich des Seehandels wegen, von derjenigen des fast zeitgleich gedruckten Pilgerführers des Hermann Künig von Vach (1496)13.
Unser Kosmograph notierte aber nicht nur die Distanzen zwischen den Städten, sondern auch die Lage (meist von einem Kirchturm in Augenschein genommen) oder auch die Bauwerke einer Stadt. Für viele (Sakral-)Bauten ist Münzer sogar die einzige Quelle, um den Zustand am Ende des 15. Jahrhunderts kennenzulernen. Größe, Breite und Höhe der Kirchen werden vermessen, mit Schritten, mit Handspannen, Ellen oder anderen Hilfsmitteln. Kleriker und Pfründen werden ebenso wie Ausstattungsgegenstände oder Gebräuche (Prozessionen in Santiago, Ritterschlag in Saint-Josse usw.) wahrgenommen. Er sah und hörte offensichtlich mit höchster Aufmerksamkeit.
Für Kunst und Kunsthandwerk sind seine (freilich nicht immer ganz klaren) Beschreibungen oft einzigartig und werden von Kunsthistorikern sehr geschätzt, denn sie bieten nicht nur eingehende Beschreibungen der Objekte wie zum Genter Altar14, sondern auch Hinweise zum Entstehungsprozess, zu den (zuweilen aus Deutschland stammenden) Bauhandwerkern und vieles andere mehr. Förderer waren auch Kaufleute: Kunst und Kommerz hingen zusammen.
Auch seine ständige Sorge, ob Klöster der Reformbewegung der Observanz folgten, zeigt, wie sehr der Nürnberger Humanist in den Diskussionen der Zeit zuhause war und wie er die Reformpolitik Ferdinands und Isabellas in dieser Frage zunehmend an den Orten kennenlernte und würdigte. Ob er die spezifisch iberischen Gemeinschaften der Hieronymiten und das Vorbild des Hieronymus so sehr schätzte, weil dies an seinen Namenspatron erinnerte? Ähnliches galt auch für andere Themen der Zeit, wie den Krieg von Granada, die Thronfolge in Frankreich oder Portugal und besonders für die Neuigkeiten zur sogenannten Europäischen Expansion.
Die politischen Interessen, die sich in Besuchen niederschlugen und teilweise erst durch Empfehlungen und Vermittlung möglich wurden, sind vielfältig und wirkten wie ein Schneeballsystem. Herausgehoben sind die Besuche am portugiesischen und kastilisch-aragonesischen Königshof. Aber auch bei Statthaltern und Bischöfen war Münzer zu Gast. In Navarra oder in Orléans wollte Münzer die Herrscher sehen und erreichte dies auch, bis hin zu der etwas merkwürdigen Szene, als ihm der kränkelnde französische Thronfolger gezeigt wurde, den er von einer Brücke aus betrachten durfte15.
Orte, Bauwerke, Institutionen und Personen waren wichtig, dazu traten aber die der Kosmographie geschuldeten Interessen, die Landschaft aufzunehmen. Zwar scheint hier später manches stereotyp und nicht immer stimmig niedergelegt, aber in der Regel beobachtete Münzer genau. Interesse an Flora und Fauna schloss wirtschaftliche Hintergründe ein, denkt man nur an den Safranhandel des 15. Jahrhunderts. Jedoch wird fast alles erfasst: Die genannten agrarischen Produkte und Pflanzen stellen für jede Übersetzung auch eine Herausforderung dar. Tiere in den herrschaftlichen Gehegen registrierte der Nürnberger Arzt ebenso, besonders exotische Tiere, von denen zum Beispiel eine Schlangenhaut oder ähnliches in Kirchen aufgehängt war. Und welche Mühe machte es Münzer, eine Gazelle zu beschreiben! Die genannten Früchte und agrarischen Produkte, deren Gedeih auch von den häufig gerühmten Bewässerungssystemen abhing, wurden oft exportiert, wie Malvasierwein, Safran, Wolle oder auch Rosinen. Deren Herstellung interessierte Münzer ebenso wie die Verarbeitung von Oliven zu Öl und anderes. Denkt man daran, dass er in jeder Landschaft immer auch Produkte, an den Kirchen Pfründen und beim Betrachten der Reliquien Geldwerte angab, dann scheint Münzer zwar Kosmograph, aber in vielem auch ein Homo oeconomicus gewesen zu sein. Er machte seinem Namen Münzer oder Monetarius also alle Ehre, obwohl ihn noch viel mehr interessierte, dies lässt der aufgezeichnete Bericht an vielen Stellen erkennen.
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