Gleichgültig ging er an müden Passanten vorbei. Spielende Kinder lächelten ihm zu, Frauen suchten seinen Blick, der ihnen wie feiner Sand über die Haut rieselte.
Wo die Großstadt endete, begann der Frühling. Zwischen den Ruinen und den Häusern des südlichen Villenvorortes lagen Felder, Wiesen, ein kurzes Waldstück. Die Sonne war schon unterwegs. Ihre Strahlen kletterten wie Käfer an den sattgrünen Halmen hoch. Die Kerzen der Kastanien reckten sich. Vereinzelt blühte schon Flieder. Die Luft roch nach Frühling, der Sand der Waldwege glänzte wie Gold. Spielende Falter woben gelbe Tupfen in das üppige Grün. Durch die Kronen der Bäume fielen irisierende Lichtflecke wie durch ein bemaltes Kirchenfenster. Der Morgen war voll Andacht. Die Luft roch nach Erde und Tau, nach Jugend und Verwirrung.
Martin lief blicklos durch die sanftschöne Landschaft wie über eine Marschstraße: er witterte seine Zukunft. Es entsprach seiner Gewöhnung, die Natur nicht in ihrer Schönheit zu bewundern, sondern nach Deckungslöchern und Laufgräben zu bewerten. Schönheit war etwas für Romantiker; Deckung aber tat not für Männer, die eine Stunde, einen Tag oder einen Krieg überleben wollten.
Der Krieg hatte ihn hart, nüchtern und bedenkenlos gemacht. Er war von der Zeit getreten worden; künftig wollte er die Zeit treten. Er war entschlossen, aus Jahren, die ihn viel gekostet hatten, seinen Zins zu nehmen.
Eine Querstraße noch, dann erreichte er das Haus seines Vaters. Auf einmal spürte er Angst, daß ihn die Bomben der Auseinandersetzung enthoben haben könnten oder daß Friedrich Wilhelm Ritt, von dem er seit fast drei Jahren nichts mehr gehört hatte, in einem Internierungslager untergetaucht sei.
Die meisten Häuser waren zerstört, aber hinten links, das zweite, die von seinem Vater erworbene Villa, stand noch. Sie hing mit der rechten Seite leicht vornüber, hatte über dem Eingang einen geflickten Riß, aber Glasfenster. Die Balkontür seines früheren Zimmers im ersten Stock stand offen.
Zwei junge Leute, die er nicht kannte, unterhielten sich.
Er blieb vor der Tür stehen, las auf dem Schild »Ritt« und erschrak darüber, daß er denselben Namen führte wie sein Vater; er klingelte und wartete ungeduldig, hörte Schritte und straffte sich. Seine Lippen waren aufeinandergepreßt, weiß, blutleer.
Der Mann in der Tür hatte einen dunklen Wuschelkopf und trug eine überlange Jacke. Sein Blick wirkte unsicher, er hatte Augen, die nicht auffallen wollten.
»Was gibt’s?« fragte er mit hartem Akzent.
»Wer sind Sie?« fragte Martin.
Es sah aus, als wollte der Fremde die Tür zuschlagen.
Die Augen des Mannes aus Polen trafen sich mit den Augen des Delinquenten aus dem Wehrmachtsgefängnis. Die Augen des Mannes, der in einem Kanalloch den Warschauer Aufstand überlebt hatte, während seine Familie, sein Volk vernichtet worden war, trafen sich mit den Augen des Mannes, dessen Hinrichtung immer wieder verschoben wurde. So sehr sich die beiden Männer unterschieden, das gemeinsame Leid schien eine unbestimmte Gemeinsamkeit zu schaffen.
»Ich suche meinen Vater«, erklärte Ritt.
Der Pole begriff, wer in der Tür stand. Sein Gesicht verschloß sich. Dann hob er den Kopf, als horche er dem Klang der Worte Martins nach. Der Mann aus Polen deutete auf das Wohnungsschild.
»Meinen Sie – den da?«
»Ja.«
»Er ist nicht hier.«
»Wo finde ich ihn?«
»Kommen Sie doch herein«, sagte der Mann in der offenen Tür zögernd.
Die Teppiche fehlten, auch zwei Bilder an der Wand. Sonst stand noch alles am alten Platz, aber es war seltsam fremd.
»Wissen Sie etwas von ihm?« fragte Martin.
»Vielleicht«, versetzte der Pole. »Sie sind also der Sohn?«
Der Mann im überlangen Sakko sah und erfaßte viel. Er hatte in Polen überlebt, durch spontane Entschlüsse, nach rechts oder nach links zu gehen. Ob man an den Burschen mit der Nickelbrille oder an den Uniformierten mit den Sommersprossen herantrat, konnte Leben oder Tod bedeuten, und zwar Sekunden später schon.
»Dieses Haus wurde beschlagnahmt«, erklärte der Mann, »Vermögenskontrolle. Einstweilen wurden zwanzig displaced persons eingewiesen.«
»Verschleppte Personen«, übersetzte Martin, »also Ausländer?« fragte er den Polen.
»DPs«, erwiderte er hartnäckig. »Mit anderen Worten: vorwiegend Überlebende der Konzentrationslager.«
Ihre Augen erfaßten einander, und solange verstanden sie sich wieder. Der Pole öffnete die Schreibtischschublade, nahm ein Päckchen Camel , zögerte kurz, dann warf er Ritt eine Zigarette zu, der sie in der Luft auffing, sich beiläufig bedankte und nicht wußte, welch fürstliches Geschenk ihm gemacht worden war, da er noch nicht gemerkt hatte, daß Zigaretten die neue Währung bestimmten.
»Ihr Vater wurde verhaftet«, sagte der Pole und nahm von Martin Feuer. »Landsberg, Kriegsverbrechergefängnis.«
Er sah Martin voll an; Spannung zeigte sich in seinen Augen.
»Und?« fragte Martin.
Der Pole sah Martin unverwandt an, während er die Schublade noch einmal öffnete und ihr ein Telegramm entnahm.
»Lesen Sie englisch?« fragte er.
»Es geht.«
»Gut«, sagte der Mann. »Setzen Sie sich. Nehmen Sie einen Schnaps?«
»Gern.«
Martin setzte sich und betrachtete das geöffnete Telegramm, vom Kriegsverbrechergefängnis Landsberg ordnungsgemäß an die Zivilanschrift von Friedrich Wilhelm Ritt gerichtet, weil man in Landsberg offensichtlich nicht wußte, daß die arisierte Villa mittlerweile für zwanzig DPs requiriert worden war. Es war an eine Frau Ritt gerichtet, die es nicht mehr gab.
Falls sie auf die leiche friedrich wilhelm ritts anspruch erheben stop bitten wir um mitteilung bis morgen neun uhr stop war crime prison landsberg.
Martin las langsam, Wort für Wort. Erst allmählich begriff er, daß er den Vater nicht mehr belangen konnte.
Er las, trank, rauchte.
Der Mann mit dem langen Sakko hatte sich abgewandt.
Martin sah noch einmal auf das Datum und stellte fest, daß die Mitteilung schon fast einen Monat zurücklag.
Der Pole drehte sich um und betrachtete den Mann in der gefärbten Uniform voll.
»Noch eine Zigarette?« fragte er leise.
»Bitte.«
»Noch einen Schnaps?«
Martin nahm beides und sagte: »Danke.«
Dann gab er dem Polen die Hand und stand auf.
Er dachte an seinen Vater. Vielleicht war es besser so. Vielleicht war das eine nötige, unabwendbare Lösung, dachte Martin. Der Haß gegen den Vater schlug um, trieb wie ein toter Fisch auf dem Rücken, glitschig und steif.
Er verließ nicht die Wohnung seines Vaters, sondern das Haus eines Toten. Und bald würde diese Villa ohne Teppiche so ohne Erinnerung hinter ihm liegen wie eine Jugend ohne Wärme.
Der Mann aus Polen folgte ihm.
»Hier«, sagte er und streckte ihm das Telegramm hin.
Sein Gast winkte ab.
Das Blumenbeet längs des Hauses war vom Unkraut überlagert; aber auch die Schlingblätter waren grün und streckten sich lichthungrig nach der Sonne. Warum ihn die Amerikaner gehängt haben? überlegte Martin. Wegen der Kristallnacht? Wegen Mißhandlung von Fremdarbeitern?
Gleichviel. Dieser Tod ist abscheulich. Man kennt ihn nur, wenn man in der Zelle auf das Erschießungspeloton gewartet hat. Bei mir sind die Russen noch rechtzeitig gekommen. Ihn konnte nichts mehr retten. Bei ihm konnten keine Russen kommen. Es war kein Krieg mehr: Friede.
Schluß. Aus. Tabula rasa. Eine klare Lösung. Erspart mir viel. Ihm vielleicht noch mehr: ein Leben im Zuchthaus; mit mir als Wärter. Schade um den hübschen Garten. Wenn die Polen jetzt nicht das Unkraut jäten, werden sie in diesem Jahr nicht mehr damit fertig …
Martin ging in die Stadt zurück, sein Schritt wurde wieder fest. Er entlief dem eigenen Schatten, maß wieder tote Schußwinkel und suchte Deckungsmulden. Er merkte es und lachte über sich.
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