Er entsann sich der kleinen Person, von der das schmale Abbild stammte. Es war ein Mädchen aus Galway in Irland, das mit Herrn von Ploß — derzeit hatte Ploß sich vorübergehend Caryman genannt — nebst einigen anderen als »Kabarettstar« nach Rio ausgewandert und verschollen war. Er, Paduzek hatte die Pässe gemacht.
Paduzek steckte das bescheidene Lichtbild sorgfältig in seine verwetzte Brieftasche. Schritte tappten treppauf. Hastig raffte er den verstreuten Schwung der Fotos zusammen. Sein Ohr hörte genauer, er kannte diese gemessen steigenden Schuhe, diesen Gentlemansschritt mit dem tastenden Unterton, und öffnete die Hand. Die hundert lächelnden, gleichgültigen und leidvollen Mädchenköpfe purzelten auf das Bett zurück.
Es klopfte. Ein lang, drei kurz.
Herr von Ploß trat ein und klemmte seine Füße zwischen Koffer und Waschtisch.
»Na, Looper?« fragte er.
Paduzek stieg auf den Stuhl, öffnete das Dachfenster, griff über die Pfannen hinunter und zog eine flache Metallschachtel heraus, in der Art der fünfziger Camelpackung, öffnete sie und entnahm ihr zwei norwegische Pässe.
Ploß prüfte die Stempel und Eintragungen. »Gut gearbeitet!« sagte er. Er hatte eine weiche melodische Stimme, die man hinter dem rostigen Bart und den brutalen Lippen nicht vermutet: »Aber ich würde so was hier nicht herumliegen lassen!«
Damit hob er einen beschmutzten Zettel von dem dürftigen Streifen Fußboden, auf dem der Probedruck eines Stockholmer Ausreise-Visums zu erkennen war. Er riß ein Streichholz an und verbrannte das Stück Papier auf der Erde des Waschständers zu Asche, die er alsbald zerrieb, in die hohle Hand fegte und durchs Dachfenster hinausbeförderte. Mit spitzen Fingern, so als wenn er sich leise ekele, säuberte er sich in dem rasurbeschmutzten Waschwasser. Während er sich an Paduzeks Handtuch abtrocknete, legte er den Blick finster auf die übers Bett verstreuten Paßbilder, und er sagte in sanftem Moll: »Leg dir lieber ein lebendiges Mädchen ins Kissen. So viel Abgehalfterte belasten nur. Oder sind sie andersrum?«
»Nein!« entgegnete Paduzek: »Aber ich habs satt.«
»Die Liebe?«
»Die Paßschweinerei.«
»Schade!« lächelte der Gentleman.
Der Artist heftete den Blick auf den haselnußgroßen Opal, den der Besucher in breiter Goldfassung an der Linken trug: »Hoffe, Sie sind im Oktober geboren.«
»Warum das?«
»Allen andern bringt diese Art Edelstein kein Glück.«
Herr von Ploß erwiderte milde:
»Glück ist Mangelware. Am besten spart man es auf, bis man es endgültig braucht.« Er schob mit seinem teuren, von einer weißen Gamasche halb bedeckten Schuh eine der gelben Schildkröten unters Bett: »Well, Looper, hier im Hotel hat sich so etwas wie ein kleines Monte Carlo aufgemacht. Als Sparklub getarnt. — Hab mirs angesehn. Ganz nette Beträge. Da ist eine Tür zum Künstlerzimmer. Besorgen Sie sich doch mal den Schlüssel. Heut abend, nicht wahr?«
Paduzeks Augen glommen auf: »Ich krieg noch Geld«, sagte er leise.
Ploß nickte höflich: »Eben. Wir rechnen später ab. Die nötige Marie verdienen Sie ja bei Klefot. Oder haben Sie Appetit auf den Opal? Sozusagen für letzte Not? Ist es schon soweit?«
Damit warf er das Handtuch über den Bilderschwung aufs Bett und ging, ohne lange zu versuchen, die Füße zu wenden, mit lässiger Geste rückwärts hinaus.
Paduzek sah wortlos hinter ihm her, bis die Tür die unzweifelhaft elegante Erscheinung zugedeckt hatte. Dann schnappte er hilflos, als wolle er eine Fliege verschlingen, zuckte den Kopf seitwärts, spie, sich schüttelnd, ins Waschbecken und murmelte: »Aas, schluck dein Gift allein!«
Dann raffte er die Bilder zusammen, ohne Blick, und packte sie weg. Aus einem andern Fach des Koffers entnahm er einen kleinen Tuschkasten, eine Uhrmacherlupe und ein winzige Lackflasche. Er holte das Bild, dem Mine Thormann entfernt zu gleichen schien, mit gequälter Andacht wieder aus der Brieftasche hervor, klemmte die Lupe ins Auge, neßte den Pinsel in der Wasserflasche und zeichnete einige fast unsichtbare Schattenveränderungen hinein. Sein Gesicht nahm unbewußt den Abglanz sehnsüchtiger Lieblichkeit an, indem er sich mit äußerster Gewalt in den Eindruck versenkte, den er von den paar flüchtigen Straßenbegegnungen mit Fräulein Thormann hatte. Es gelang ihm nicht gleich, er winselte unglücklich, atmete schwer, seine Stirn feuchtete sich. Er keuchte in ungeheurer Anstrengung.
Nun schien es gelungen, er ließ es trocknen, fügte hauchdünn einen wasserhellen Lack darüber, befächelte es behutsam mit der Handkante und prüfte tief von der Seite die Gleichmäßigkeit des Glanzes, überzeugte sich nochmals mit dem freien und mit dem lupenbewaffneten Auge, nahm die Lupe heraus, vertiefte sich innig in die Süße der Ähnlichkeit, die ihm ungemein erreicht schien, faßte die bescheidene Fläche Glück, dieses sonderbare Stück toter Ebene, darin ein atmendes Geschöpf, um das plastische Ausmaß verringert, dennoch atmend zu wirken vermochte, trug es in Zärtlichkeit flaumsacht zwischen zwei Fingerspitzen gespannt und legte es in feierlichem Schwunge, sorgsam ausgerichtet, unter sein dürftiges Kopfkissen.
Jonny hatte in der Wirtschaft zum »Halben Kilo« (vormals Antwerpen) sein Abendessen eingenommen, das zugleich seine Hauptmahlzeit war; denn mit der Ablösung hatte es ja heute nicht geklappt. Nun schritt er gemächlich wiegenden Ganges zum Thormann’schen Laden zurück. Auf dem Heimweg hatte er ihn nur flüchtig mit dem Blick gestreift, ohne Mine zu entdecken. Denn es war schon längst nach Geschäftsschluß. Jetzt aber stand sie im Eingang. Sie war hübsch angezogen. Sie hatte wieder das lange abendliche Kleid von gestern an, apfelsinenfarben mit roten Punkten. Es deuchte Jonny das schönste Kleid, das er je auf Erden gesehen hatte. Es so halb wieder zu erleben, versetzt in in Beklemmung.
»Wir gehen heute abend aus, Jonny!« sagte Mine, da er nichts sagte.
»Mit den Eltern?« fragte Jonny in höflicher Gefaßtheit. Er wäre nämlich lieber allein mit seiner frischen Braut noch etwas spazieren gegangen.
Mine lachte übermäßig laut. Sie genoß ihr Lachen, das von der Gegenseite der Straße in kleinem silbernem Echo widerhallte. Sie tippte ihm mit dem rundlichen Zeigefinger auf die Nase. »Kleiner Dösbaddel«, sagte sie: »Du und ich!«
Jonny war sehr überrascht. »Heute?« antwortete er gedehnt: »Deern, ich bin müde.«
»Zu müde, Jonny?«
Sie ließ ihm keine Zeit, von seinem dreckigen Jumper und sonstigen Einwendungen zu reden. »Zieh dich flugs um«, entschied sie, nahm ihn beim Arm und bugsierte ihn, ihrer großen Aufmachung ungeachtet, wieder am »Halben Kilo« vorbei und um die Ecke in die Erichstraße.
Das Kreuzfeuer herumlungernder Blicke ermunterte sie, zum ersten Mal in ihrem Leben den Eingang zu betreten, der in das Treppenhaus und zu Jonnys Behausung führte. Jonny wohnte ungefähr gegenüber den derzeit Papa Haases Museum für Kolonie und Heimat, drei Treppen hoch, bei Mudder Schütt.
Jonny verbarg sein Erstaunen. Er hatte nach jenem Turnerball, da Mine ihn bei der Damenwahl aufgefordert und so den Grund gelegt hatte zu näherer Bekanntschaft, sie nach Haus bringen dürfen, gänzlich ohne ihre Eltern, die schon vordem gegangen waren. Sie waren damals eine Zeitlang zwischen der Thormannschen Ladentür und dem Eingang zu seinem Logis hin und her gependelt. Die Zunge war ihm in der Nacht etwas gelöster gewesen. Und obschon die handgreiflichen Matrosenerinnerungen ihm solchem Mädchen wie Mine gegenüber nicht am Platze schienen, hatte er schließlich doch gemeint, daß man sich gegebenenfalls noch ein bißchen in den windgeschützten Treppenflur stellen könne. Damit allerdings war er angeeckt.
Nun ging sie ohne Einladung sogar die Treppen mit hinauf.
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