Josephe schwieg, und ob sie Ulrike oder der Mutter recht gab, war in ihren Zügen nicht zu lesen, die bei allem Reiz verträumter Mädchenhaftigkeit eine gewisse Starrheit stets behielten. Nur in den Augen war ein Strahl leidenschaftlichen Forschens, als wolle sie das ihr so heiter, so werbend zugekehrte Gesicht Ulrikes durch und durch ergründen, als frage ein in ihr verborgener wachsamer Geist: wer bist du und was hast du im Sinn?
Unvergesslich war der Eindruck, den ihr die Erzählung von Ulrikes Kindheit und Jugend gemacht. Noch nie hatte sie so gewaltig gespürt, was das Schicksal ist. Die Brust hatte sich ihr wie von einer Flamme gespaltet und sie hätte vor Ulrike knien mögen, nur weil es ihr so wahr dünkte, so unerbittlich und grausam, so wie sie eben das Menschenlos empfand. Sie floh dann in ihre Kammer und betete mit der ihr eigenen Art, Gebete, vielmehr Anrufungen und Fragen formlos aus der inneren Bedrängnis zu reissen. Sie stellte sich Gott gegenüber wie zum Kampf, und in ihrem Munde wurde der Name Gottes ein Wort zum Staunen, ein Wort zum Schaudern. Du hast mich geschaffen und du hast sie geschaffen, so ungefähr bedrängte sie Gott, warum mich mit der leichten Last und sie mit der schweren? Bist du in ihr auch ein Inwendiges, warum hast du sie mit soviel mehr Finsternis umgeben als mich? Warum bin ich denn ich und nicht sie? Warum bleibt das so ehern unwandelbar, das Josephe-Sein, das Ulrike-Sein?
Man sieht, sie griff in ihrer naiven Erschütterung an die Wurzel der Dinge. Und es war nicht bloss der seelische Sturm, nicht bloss das fortwirkende Dankbarkeitsgefühl, das sie so nah an Ulrike trieb, es war auch der Zweifel, immer wieder auftauchender dumpfer Zweifel, mit dem sie kämpfte und der sie zwang, sich mit ihr zu beschäftigen.
Sie sah, dass irgend etwas anders wurde im Haus, dass Mutter und Schwestern plötzlich andere Worte hatten, andere Mienen, dass die Farbe des täglichen Lebens verändert war, zuerst kaum merklich, doch von Tag zu Tag deutlicher wahrnehmbar, und von alledem war Ulrike die Urheberin. Es war nichts Böses, nichts, was schlechthin hätte missbilligt werden können, aber eine dunkle und fremde Macht war es, etwa wie wenn man aus einer gewohnten und natürlichen Bewegung in eine neue und den Gliedern unwillkommene gerissen wird. Licht und Schatten waren nicht mehr wie früher verteilt; Alleinsein war nicht mehr dasselbe; Gespräch mit der Mutter nicht mehr dasselbe; Arbeit und Schlaf nicht mehr dieselben, und es gab fast keinen Gedanken mehr, der sich nicht quälend und beunruhigt an Ulrike kettete.
Doch niemand in Josephes Umgebung erriet etwas von dieser Verwirrung ihres Gemütes, auch Christine nicht.
Am dritten Tag waren die seidenen Dominos für Esther und Aimée fertig; der eine war weinrot, der andere teerosengelb. Für beide waren Gewänder Christines zerschnitten worden, die seit Jahren im Schrank hingen und die sie nicht mehr trug. Das Zubehör war unter alten Resten herausgesucht und mit Geschicklichkeit und Geschmack verwendet worden. Ulrike hatte ihrerseits auch ein altes Samtkleid in ihren geringen Beständen entdeckt und so gut es gehen wollte zurechtgeschneidert.
Sie war damit schon am Montag vormittag zustande gekommen und nahm es gleich mit nach Hause. Dann half sie den Schwestern bei der Arbeit, und am Dienstag, gegen Mittag, war der letzte Nadelstich getan. Die Verabredung war so: beim Mittagessen hatten Esther und Aimée dem Vater mitzuteilen, dass sie für den Abend zu Ulrike geladen seien; mochte er sich darunter vorstellen, was ihm beliebte, bei der Harmlosigkeit der Sache würde er sich schnell beruhigen. Am Nachmittag sollten sie ihre Besorgungen machen; sie mussten noch passende Strümpfe und ein paar Kleinigkeiten kaufen; Geld hatte ihnen Ulrike bereits gegeben. Nach dem Abendessen sollten sie sich in ihrem Zimmer umziehen, selbstverständlich unter Anwendung aller Vorsicht; vielleicht dass Josephe Wache hielt; dann hatten sie sich in einen Einspänner zu setzen und zum Hause Dorotheergasse Nummer zehn zu fahren, wo Ulrike sie Punkt neun Uhr erwarten würde.
Alles lief wider Vermuten gut ab, und trotz des Lampenfiebers der Mädchen: die Erlaubnis zu dem abendlichen Besuch ward erteilt, wennschon unter Brummen und Nörgeln. Mylius zog sich zur Siesta zurück, Esther und Aimée gingen fort, Josephe begleitete eine halbe Stunde nachher die Mutter zum Zahnarzt.
Unbedachterweise, im Glauben auch, die Mutter bleibe als Aufpasserin in der Wohnung, hatten die Schwestern ihre Dominos in der gemeinsamen Schlafstube über eines der Betten gebreitet, und als Mylius sich von der Mittagsrast erhob und wahrnahm, dass niemand zu Hause war, geriet er in schlechte Laune, denn er hatte es nicht gern, wenn alle ausser dem Haus waren. Sei es, um zu spionieren, sei es nur, um sich Bewegung zu machen, er trat einen Gang durch sämtliche Räume an, und als er in das Zimmer von Esther und Aimée kam, sah er sogleich die beiden Kostüme. Sah, dass sie neu waren, sah, dass sie zu einem verdächtigen Zweck bereit lagen. Eine Weile verharrte er und dachte nach; plötzlich hatte er die Erleuchtung: der angebliche Besuch bei der Woytich am Abend war ihm ohnehin nicht ganz geheuer vorgekommen. Also war etwas im Werk; also geschah Verwerfliches und ohne sein Wissen; das roch von weitem nach Lustbarkeit, nach Vergnügungstaumel, nach Geldverschleuderung. Er stiess einen leisen Pfiff aus, ergriff die beiden Gewänder, legte sie geschickt zusammen, holte einen grossen Bogen braunes Papier aus dem Flur, machte ein kunstgerechtes Paket und nahm dieses unter den Arm, um es in seinen Laden zu schaffen und zu verschliessen. Während er die Stiege hinunterging, schmunzelte er grimmig.
Als Esther und Aimée gegen fünf Uhr heimkamen und die Dominos nicht vorfanden, hatten sie noch kein Arg; sie dachten, die Mutter habe sie vorsichtshalber verwahrt. Ziemlich missmutig harrten sie auf deren Rückkehr, und es wurde halb sieben, bis Christine und Josephe endlich kamen. Zum Schrecken der beiden erklärte Christine, dass sie die Kostüme nicht weggeräumt, nicht einmal angerührt habe. Therese wurde gerufen und verhört. Sie wusste nichts. Aimée schrie: „Der Vater! nur er kann es gewesen sein.“ Die ganze Wohnung wurde durchsucht, Schubladen aufgerissen, Schränke entleert, unter den Betten Nachschau gehalten, in Küche, Flur, Vorratsraum, Magdkammer alles um- und umgewühlt: vergeblich. Esther irrte bleich von Stube zu Stube; Aimée warf sich aufs Sofa und brach in unstillbares Weinen aus; um diese war Josephe mitleidig bemüht, jene zu beschwichtigen, war Christines Bestreben. Als Lothar nach Hause kam und Zeuge des Jammers wurde, schlug er vor, Josephe solle in Vaters Laden und ihn geradezu fragen; was Schlimmeres, als dass er sie wieder gehen heisse, könne ihr nicht passieren. Er selbst, in einer Beklommenheit und Hast, die noch auf anderes deutete als brüderliche Teilnahme, erbot sich, in die Dorotheergasse zu laufen und Ulrike zu holen. Josephe war bereit, obgleich ihr bei dem Auftrag nicht wohl war; ihr Verhältnis zum Vater war das einer gespannten Scheu; er war ihr ein wenig fremd, aber sie begegnete ihm mit der zartesten Rücksicht und Achtung; indem sie alles vermied, was sein Missfallen erregen konnte, kostete sie auch jede Annäherung einen Entschluss.
Als sie in die Himmelpfortgasse kam, war es sieben Uhr vorüber und das Gewölbe schon gesperrt. Man wusste, dass Mylius in der Zeit zwischen sieben und acht Uhr in einem kleinen Kaffeehaus an der Bäckerstrasse zu sitzen pflegte; er trank dort, stets einsam, eine Schale schwarzen Kaffee und las die deutschen Zeitungen. Josephe mochte nicht unverrichteter Dinge zurückkehren; sie ging zur Bäckerstrasse, stand alsbald vor der Eingangstür des Kaffeehauses, wollte warten, schritt auf und ab. Doch wurde ihr unbehaglich, als vorübergehende Männer sich umdrehten und sie anstarrten; sie trat an eines der Fenster, wo der Vorhang nicht bis an den Rahmen zugezogen war, und lugte hinein. Wie sehr erstaunte sie, als sie an einem der kleinen Tischchen den Vater in Gesellschaft Ulrikes erblickte. Sie sassen einander gegenüber, und Ulrike redete mit der Fülligkeit ihrer Gebärden, der Unbekümmertheit ihrer Haltung, den blitzenden Augen, dem heitern, immer ein wenig mokanten Lächeln auf ihn ein. Der Vater hörte zu, im Sessel zurückgelehnt, mit einer gewissen Höflichkeit, ja Verbindlichkeit, die Josephe an ihm nicht kannte und die seinem Gesicht einen für sie neuen Ausdruck verlieh.
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