Wir waren seit zwei Stunden unter der Erde unterwegs, und Steve führte uns durch einen Gang, der so eng und niedrig war, dass wir auf Ellbogen und Bauch vorwärtsrobbten. Als wir auf der anderen Seite wieder herausrutschten, sahen wir drei Stirnlampen in der Dunkelheit glühen. Es waren drei junge Pariser Cataphiles , angeführt von einem großen, langgliedrigen Mann Mitte zwanzig, Benoit hieß er.
»Willkommen am Plage «, sagte er mit weit ausholender Geste.
Wir waren an einem der wichtigsten Treffpunkte der Cataphiles gelandet, einem großen, höhlenartigen Raum mit Sandboden und hohen Decken, die von dicken Sandsteinpfeilern gestützt wurden. Jede Oberfläche, jeder Quadratzentimeter an den Wänden, Pfeilern und der Felsendecke war bemalt. Im Dunkeln sahen die Gemälde gedämpft und schemenhaft aus, aber im Licht einer Taschenlampe fingen sie an zu strahlen. Mittelpunkt war eine Kopie von Hokusais Die große Welle vor Kanagawa mit der sich kräuselnden Gischt in Weiß und Blau. Im ganzen Raum verteilt standen aus Stein gemeißelte Tische, Bänke und Stühle. Die Raummitte wurde von der riesigen Skulptur eines Mannes eingenommen, der mit seinen erhobenen Armen die Decke stützte, wie ein unterirdischer Atlas, die Stadt auf seinen Schultern tragend.
»Das hier ist so was wie …« Benoit zögerte, offensichtlich suchte er nach einer passenden Analogie, »der Times Square der Katakomben.«
Am Wochenende, erklärte er, füllten sich La Plage und andere große Hallen mit Partyvolk. Manchmal zapften sie eine Straßenlampe an der Oberfläche an, sodass eine Band oder ein DJ Musik machen konnte. Oder ein Cataphile band sich einen Gettoblaster auf die Brust, arbeitete sich damit durch die Tunnel und bewegte sich mit der Musik von einem Raum zum nächsten, und die Party folgte ihm, tanzte wie eine unterirdische Polonaise durchs Dunkel, während Whiskeyflaschen von einem zum nächsten wanderten. Aber dort unten fanden auch gesetztere Zusammenkünfte statt: Gut möglich, dass man in einem dunklen Saal auf eine kerzenerleuchtete Festtagsfeier traf, bei der Cataphiles zusammen Champagner tranken und galette des rois aßen.
In Paris gehen die Menschen seit langer Zeit in den Untergrund, um sich künstlerisch zu betätigen, Bilder zu malen und Skulpturen und Installationen in entlegenen Grotten zu schaffen. Nicht weit von La Plage befand sich Le Salon du Chateau , wo ein Cataphile die Nachbildung einer normannischen Burg aus dem Stein gehauen und mit Wasserspeier-Skulpturen verziert hatte. Im Salon des Miroirs waren die Wände mit Spiegelscherben bedeckt, es sah aus wie in einer großen Discokugel. Und dann war da noch La Librairie , ein Alkoven mit handgehauenen Regalen, auf denen man Bücher für andere abstellen konnte (leider verschimmelten die Bücher in der feuchten Luft relativ schnell).
Wenn man die Katakomben durchstreift, hat man das Gefühl, in einem irren Krimi voller Falltüren, falscher Wände und geheimer Rutschen gelandet zu sein, in dem jede Öffnung zu neuen, versteckten Räumen mit neuen Überraschungen führt. Am Ende einer Passage stößt man vielleicht auf ein riesiges Hieronymus-Bosch-Wandgemälde, das im Lauf der Jahrzehnte immer weiter vervollständigt worden ist, an einer anderen Stelle auf die lebensgroße Skulptur eines Mannes, der halb aus der Steinwand herauskommt, als trete er gerade aus dem Jenseits hervor; dann geht man einen anderen Gang entlang und kommt an einen Ort, der jegliches Konzept von Realität infrage stellt. 2004 brach eine Streife in den unterirdischen Steinbrüchen durch eine falsche Wand und landete in einem großen, höhlenartigen Raum. Die Cataflics trauten ihren Augen nicht: Sie standen in einem unterirdischen Kino. Cataphiles hatten Sitzplätze für zwanzig Zuschauer aus dem Stein gehauen, es gab eine Leinwand, einen Projektor und mindestens drei Telefonleitungen. Neben dem Vorführraum befanden sich eine Bar, eine Lounge, eine Werkstatt und ein kleines Esszimmer. Als die Polizei drei Tage später zurückkehrte, um das Ganze näher zu untersuchen, waren alle Installationen verschwunden, und der Raum lag leer da – mit Ausnahme einer Nachricht: »Versucht nicht, uns zu finden.«
Auch wenn die Cataphiles nichts davon ahnten – unsere Unterquerung der Stadt wäre ohne sie undenkbar gewesen. Unsere Karte war ursprünglich von den Stammesältesten angefertigt und mit dem Wissen mehrerer Generationen vervollständigt worden: Es wurde angezeigt, welche Gänge niedrig waren und auf dem Bauch durchquert werden mussten, welche unter Wasser standen und welche unsichtbare Stolperfallen hatten, die vorsichtig umgangen werden mussten. (Damit das Tunnelsystem nicht zu einfach zu finden war, hatten die Älteren die Eingänge allerdings nicht auf der Karte verzeichnet.) Im Lauf der Jahre schmuggelten die Cataphiles Bohrmaschinen und Presslufthammer in den Untergrund, um kleine Durchgänge in den Wänden zu schaffen: sogenannte chatières – Katzenklappen –, die sich auf unserem Treck als lebensnotwendige Übergänge erweisen sollten.
Benoit, der nur ein kleines Täschchen mit einer Wasserflasche und einer zweiten Lampe dabeihatte, warf einen fragenden Blick auf unsere dicken Rucksäcke. »Wie lang wollt ihr unten bleiben?«, fragte er.
»Wir durchqueren die Stadt«, antwortete Steve. »Bis an die nördliche Stadtgrenze.«
Benoit starrte Steve einen Augenblick lang an, dann lachte er, bevor er sich umdrehte und im Dunkeln verschwand; vermutlich hielt er es für einen Witz.
Wir wanden, bogen und reckten unsere Körper, als absolvierten wir ein ausgedehntes unterirdisches Stretching. Wir zwängten uns durch lange Schläuche und fielen auf der anderen Seite mit verknoteten Gliedmaßen wieder heraus wie ein neugeborenes Fohlen. Wir ließen uns hinab in Hohlräume von der Größe eines Ballsaals, in denen unsere Stimmen von der Decke hallten. Von den durch die Luftfeuchtigkeit glitschigen Wänden stieg Dampf auf: ein Gefühl, als würde man durch verschlungene Hirnwindungen kriechen. Mehr als zwanzig Meter blickten wir in Kanalschächten nach oben, doch draußen war es zu dunkel, um den Himmel zu sehen. Braune Wurzeln hingen wie kleine, runzlige Kristalllüster von den Decken. Die Hauptgänge waren mit den typischen Pariser Straßenschildern aus blauem Emaille gekennzeichnet, entsprechend der Straßennamen darüber. Das unterirdische Palimpsest wird immer wieder neu überschrieben; Graffiti aus heutigen Sprühdosen überdeckten die Rußflecken der Steinbrucharbeiter aus dem siebzehnten Jahrhundert, unter denen sich wiederum Fossilien prähistorischer, im Kalkstein eingebetteter Meereslebewesen verbergen. Alle paar Minuten kamen wir an seitlich abzweigenden Galerien vorbei, eine kleine Erinnerung daran, wie labyrinthisch unser Weg noch werden sollte.
Die Neulinge Chris, Liz und Jazz bewegten sich wie in einem Traum. »Ich kann einfach nicht glauben, dass das echt sein soll«, flüsterte Jazz.
Irgendwann leuchtete ich mit meiner Lampe nach oben und entdeckte einen großen schwarzen Spalt in der Decke. Im achtzehnten Jahrhundert waren Stollen eingestürzt: Ganze Häuser, Pferdekutschen und Passanten wurden von der Erde verschluckt, und die Steinbrucharbeiter unter ihnen wurden vom Erdreich verschüttet. Aber heutzutage waren die Tunnel gut gesichert, und wir mussten nicht fürchten, lebendig begraben zu werden – die Katakomben waren der ungefährlichste Abschnitt unserer Reise.
Читать дальше