Gleichzeitig gab es auch den ersten großen Andrang illegaler Besucher – Proto-Kataphile, die sich in den Stollen abseits des offiziellen Rundgangs umsahen. Liebespaare verabredeten sich zum unterirdischen Rendezvous, Jugendliche begaben sich auf abenteuerliche Entdeckungsreisen. Ähnlich wie viele, viele Jahre später wurden auch damals schon geheime Konzerte in den Katakomben organisiert. Einhundert geladene Gäste versammelten sich auf der Rue d’Enfer (Straße der Hölle). Ihre Kutschen hatten sie in einiger Entfernung abgestellt, um keinen Verdacht zu erregen, dann schlüpften sie in den Untergrund. Zwanzig Meter unterhalb der Stadt saß das Publikum, umgeben von auf menschlichen Schädeln brennenden Kerzen, vor einem Orchester mit fünfundvierzig Musikern. Auf dem Programm standen Chopins Trauermarsch und Saint-Saëns mit seinem Danse Macabre .
Noch eine Stunde weiter in nördlicher Richtung, dann schlugen wir unser Lager in einer viereckigen Kammer auf, die erst im neunzehnten Jahrhundert aus dem Stein gehauen worden war. Wir hängten unsere Hängematten an Eisenringe in der Wand, und Liz und ich kochten Spaghetti mit Thunfisch. Glücklich und erschöpft verzehrten wir schweigend unser Essen. Es war wie Zelten auf dem Mond: Hier unten gab es keine Geräusche, nichts Lebendiges, nur kilometerweit Dunkelheit.
Als wir uns schlafen legten, fragte Chris, welche Uhrzeit es sei. Moe meinte, wir befänden uns an einem Ort, an dem es von Anbeginn aller Zeiten bei vierzehn Grad Celsius vollkommen dunkel gewesen sei, der sich also jenseits aller natürlicher Rhythmen befand. »Es ist nie Uhr«, sagte er.
Ich wachte auf und sah eine Frau im Durchgang zu unserer Schlafkammer stehen. In einer Hand hielt sie eine antike, schmiedeeiserne Laterne mit einer zischenden Flamme darin, die ein honiggelbes Licht verströmte. Ich beobachtete, wie sie sich auf Zehenspitzen in die Mitte des Raums bewegte und etwas auf den Boden legte, das wie eine kleine Postkarte aussah.
» Bonjour «, sagte ich. Sie fuhr zusammen.
Misty war über vierzig und besuchte die unterirdischen Steinbrüche seit gut fünfundzwanzig Jahren. In dieser Nacht wanderte sie allein durch die Gänge – ohne Karte, wie mir auffiel.
»Manchmal ist es schön, zum Spazierengehen nach hier unten zu kommen«, sagte sie mit französisch singendem Tonfall. Wie sie es schaffte, dass ihre Stiefel fleckenlos und ihre graue Bluse wie frisch aus der Reinigung aussahen, war mir unklar. Misty bewegte sich in den Steinbrüchen von einem Hohlraum zum nächsten und hinterließ überall kleine Zeichnungen, gemalte Grüße an andere Cataphiles . Für uns hatte sie ein Bild von zwei Händen, die ein Dreieck bilden, hingelegt.
Es war ein Uhr morgens, als wir den Ausgang aus den Katakomben fanden: eine chatière , die so eng war, dass ich mit den Schultern nur ganz knapp hindurchpasste. Wir befanden uns in einer selten besuchten Ecke der Bergwerksstollen, in der die Decken mit jahrhundertealten, von der Inspection générale des carrières eingebauten Holzpfosten abgestützt wurden.
Wir waren jetzt seit siebenundzwanzig Stunden unter der Erde. Ich hatte getrockneten Schlamm in den Ohren und rund um die Nasenlöcher.
»Ich komme mir schon wie ein Höhlenmensch vor«, sagte Liz und machte ein paar Dehnübungen im Tunnel.
»Ich finde ständig irgendwelches Zeug in meinen Haaren«, sagte Jazz und untersuchte eine Dreadlock. »Ich glaube, das war gerade Knochenmark.«
Moe zog die Socken aus, holte ein kleines Jodfläschchen hervor und pinselte seine Zehennägel mit der orangefarbenen Flüssigkeit ein. Steve sah verwundert zu.
»Du glaubst doch nicht etwa, dass ich meinen Niednagel nicht desinfiziere, bevor ich im Abwasser herumlaufe?«
Um in die Abwasserkanäle zu gelangen, mussten wir erst einen Weg durch Technikgänge finden, die uns unter die Seine führen würden. Wenn die Katakomben das Stammhirn der Stadt waren, dann war der Gang aus Beton, in dem wir jetzt herauskamen, ein Blutgefäß, eine bescheidene Verbindungsader zwischen wichtigeren Organen. Als wir weitergingen, merkten wir, wie nah wir der Erdoberfläche auf einmal waren: Von der Straße drangen gedämpft Gesprächsfetzen herunter, das Klacken hoher Absätze, das Bellen eines Hundes. Durch einen Entlüftungsschacht in der Wand sah ich einen orangefarbenen Schein – Licht aus einer Tiefgarage. Ich ging in die Hocke und beobachtete eine dunkelhaarige Frau, die in ihr Auto stieg, rückwärts aus der Parklücke ausscherte und wegfuhr, und ich kam mir vor, als sei ich ein Gespenst, das hinausspäht in die Stadt der Lebenden.
Wir schafften es nicht, einen Zugang zum Versorgungstunnel unter der Seine zu finden, und mussten deshalb nach oben, wenn auch nur für einen Augenblick. Am Fuß eines Schachts mit einer an die Oberfläche führenden Leiter diskutierten wir die Choreografie unseres Ausstiegs in besorgtem Flüsterton.
»Ich glaube, ich habe mehr Angst davor, erwischt zu werden, als hier unten ums Leben zu kommen«, flüsterte Moe.
»Alles gut«, sagte Steve. »Wenn sie uns ins Gefängnis schmeißen, graben wir einfach einen Tunnel.«
Chris’ Augen war leichte Besorgnis anzusehen.
Wir kamen in der Nähe von Saint-Sulpice heraus, vor einem Laden mit luxuriöser Babykleidung. Weit und breit war keine Polizei zu sehen, und wir huschten durch leere Gassen in Richtung Seine. Am Ende einer menschenleeren Straße ging Steve in die Hocke und öffnete eine Klappe, und wir verschwanden alle schnell wieder unter der Erde. Als ich mich noch einmal umschaute, bemerkte ich den Blick eines Hilfskellners, der mich verständnislos anstarrte, während er die letzten Salz- und Pfefferstreuer abräumte.
Der Tunnel unter der Seine war feucht und hatte eine schreckliche Akustik, wie in einem U-Boot. Selbst hier fanden wir Spuren von Eindringlingen: ein paar Tags, eine leere Literflasche Kronenbourg-Bier. Als wir unter dem Fluss hindurchgingen, stellte ich mir einen Querschnitt der Stadt vor, auf dem alle Ebenen übereinander zu sehen waren. Über uns ragte die mächtige Silhouette von Notre-Dame auf, dann kamen die Brücken und der Fluss. Tief unter uns verliefen die Röhren der Metro, in denen es bald schon wieder von Menschen auf dem Weg zur Arbeit wimmeln würde. Wir, sechs winzige, durchs Dunkel wandernde Lichtkegel, befanden uns in der mittleren Ebene dazwischen.
Vor Nadar waren die dunklen, verschlungenen Abwasserkanäle eine Quelle unendlichen Grauens für die Pariser Bevölkerung gewesen. In Victor Hugos Die Elenden , dem Roman, der in den zwanzig Jahren vor der Veröffentlichung von Nadars Bildern entstand, versinnbildlicht die Kanalisation den Albtraum des Städters schlechthin. Victor Hugo schrieb: »Der Darm des Leviathan« ist »verschlungen, zerklüftet, das Pflaster aufgerissen, ausgehöhlt, von Schlammlöchern unterbrochen, hin und her geworfen von bizarren Krümmungen, auf- und absteigend ohne Logik, stinkend, wild, grausam, in Dunkelheit getaucht, mit Narben auf den Quadersteinen und Hiebwunden an den Mauern, entsetzlich.«
In den 1850er-Jahren wurde die Kanalisation unter der Leitung von Georges-Eugène Haussmann, dem berühmten Stadtplaner von Napoleon III., vollständig saniert. Er ließ die Straßen aufreißen und fünfhundertsechzig Kilometer neue Abwasserrohre verlegen. Die Rohrstücke wurden mit einem Gefälle von drei Zentimetern pro Meter verlegt – eine allmähliche Steigung, die zu Fuß gut zu bewältigen, aber steil genug war, dass die Abwässer ständig im Fluss blieben. In ausgiebigen Testreihen wurde festgestellt, dass ein Tierkadaver im Laufe von achtzehn Tagen durch die Stadt gespült wurde, Konfetti schafften dieselbe Strecke in sechs Stunden. Doch das Grauen der Öffentlichkeit ließ sich auch durch diese Modernisierungsmaßnahmen nicht vertreiben. Außer den Kanalisationsarbeitern – den égoutiers –, die jeden Tag den Dreck aus den Röhren putzten, betrat niemand die Abwasserkanäle freiwillig.
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