„Ich würde lieber erst deinen Arbeitsplatz sehen.“ Jun löste seine Hand von meinem Haar und ließ sie kurz an meinem Hals verweilen, bevor er sie senkte. „Und diesen verdächtigen Schrank.“
Ich stöhnte recht theatralisch, ergriff jedoch seine Hand und zog ihn in Richtung Souvenirladen. „Na gut. Aber kein Trödeln. Rein und wieder raus, okay?“
„Okay.“
Ich führte ihn hinein und freute mich darüber, eine beachtliche Zahl von Touristen im Raum umhergehen zu sehen. Eigentlich hatte ich das Haus nach dem morgendlichen Fiasko nicht wieder öffnen wollen, doch ohne eine Leiche gab es keine ernsthafte Entschuldigung dafür, alles zu schließen. Hätte der Vorstand unserer gemeinnützigen Organisation davon – und von meiner nicht direkt überzeugenden Begründung für die Schließung – gehört, wäre ich im Handumdrehen in die Wüste geschickt worden. Also hatte Adam wieder mit dem Verkauf von Eintrittskarten begonnen, als Jun und ich uns auf den Weg zum Mittagessen gemacht hatten.
„Hi, Aubrey“, rief mir Adam von der Kasse zu.
„Ist hier alles okay?“
Adam nickte. „Zumindest hat bisher niemand von unansehnlichen Besuchern im Haus berichtet.“
„Sehr witzig“, antwortete ich trocken. „Ich bin nicht offiziell hier, ich zeige Jun nur das Haus und dann verschwinden wir wieder.“
Adam warf einen Blick auf Jun. „Alles klar.“
Ich führte Jun hinaus und in den Garten. Einige Besucher spazierten dort über die Wege, machten Fotos und lasen die Informationstafeln an einigen der seltenen und schönen Pflanzen, die sich vor Ort befanden.
Juns Hand legte sich auf meinen Rücken, und meine Güte – mir war nicht klar gewesen, wie sehr ich derartige Berührungen eines Mannes vermisst hatte. „Ich glaube, dein Angestellter mag mich nicht.“
Ich riss meine Aufmerksamkeit von Juns Hand los, um stattdessen zu ihm aufzusehen. „Adam?“
„Mhm.“
„Wie kommst du darauf?“
„Nur so ein Gefühl.“
„Wieso? Melden sich deine Polizeiinstinkte?“
Juns Mund verzog sich zu einem schwachen Lächeln und er setzte sich in Bewegung, ging auf das vor uns aufragende Haus zu. „Nein.“
„Weißt du, er kommt absolut nie zu spät. Er wartet schon auf der Veranda, wenn ich zur Arbeit komme. Adam ist ein guter Junge.“
„Wenn er nicht gut wäre, hättest du ihn nicht eingestellt“, sagte Jun, womit er mir zuzustimmen schien.
„Wieso glaubst du dann, er würde dich nicht mögen? Adam mag jeden.“
„Freundesinstinkte.“
Ich blieb stehen, grinste und stemmte die Hände in die Hüften. „Ohhh.“
Jun blieb stehen, um sich zu mir umzudrehen. „Nicht dass …“
„Nein, nein, ich verstehe schon“, unterbrach ich ihn, wobei ich spürte, wie sich ein freches Grinsen auf meine Lippen legte. „Mr Tanaka, bitten Sie mich gerade offiziell, Ihr Freund zu werden?“
Jun schluckte mit hüpfendem Adamsapfel. „Nicht direkt.“
„Warum nicht?“
„Ich will nicht, dass du dich verpflichtet fühlst. Vor allem, weil ich zu Besuch bin und bei dir wohne …“ Er zuckte mit den Schultern.
„Ich werde wohl alt, denn ich habe noch nie etwas, das mir jemand gesagt hat, so attraktiv gefunden.“
Jun wandte kurz den Blick ab, hielt sich eine Hand vor den Mund, um ein Lachen zu unterdrücken. „Also suchst du mittlerweile keinen Mann mehr, der sexy und leidenschaftlich ist?“
„Oh, und ob“, verbesserte ich ihn. „Aber ein Kerl, der auch gern über meine Gefühle redet? Das macht mich an.“ Ich ging einen Schritt auf ihn zu. „Ganz zu schweigen von Männern, die Fußleisten abstauben und sich mit Buchführung auskennen.“
Jun sah sich um, als wollte er sicher sein, dass sich keine gaffenden Touristen in der Nähe befanden und ergriff meine Hand, um mich näher an sich zu ziehen. „Auf mich trifft beides zu“, bestätigte er.
„Ja? Meine Jeans wird mir gerade etwas zu eng.“
Fältchen bildeten sich neben Juns Augen, als er lachte. „Und weißt du, welches andere Talent in meinem Lebenslauf steht?“
„Welches?“
„Es kam schon vor, dass ich Furcht einflößende Insekten aus dem Haus gebracht habe.“
„Oh, verdammt. Du machst mir jetzt besser einen Antrag. Dich lasse ich nicht mehr gehen“, sagte ich laut lachend.
Jun küsste meine Stirn.
„Also, wie sieht’s aus, Mr FBI? Willst du meine bessere Hälfte werden?“
Wie gesagt, Jun war ziemlich still. Es war irgendwie süß, weil ich ihn schon im offiziellen FBI-Modus erlebt hatte. Er war ein knallharter Typ wie aus einem Hollywoodfilm. Und flirten? Da gab es keine Probleme, genauso wenig wie mit öffentlicher Zurschaustellung von Zuneigung. Aber richtige Gespräche? Die waren nicht sein Ding. Wenn ich darauf wartete, dass er mir diese Frage stellte, wäre ich achtzig, bevor etwas passierte.
Die Sache mit dem Freund, dem meine Gefühle ebenfalls wichtig waren, hatte ich allerdings ernst gemeint. Mein letzter Freund, Matt O’Sullivan, hatte sich so wenige Male dafür interessiert, dass sich die Zahl bei unserer Trennung praktisch im Negativbereich befunden hatte. Erst als ich tausend Meilen von ihm entfernt gewesen war, hatte ich wirklich begriffen, wie sehr diese Beziehung meinem Selbstwertgefühl geschadet hatte. Aber Jun war daran interessiert. Er war oft daran interessiert. Und das war die Art von Mann, die man nach Hause mitnahm, um sie Ma und Pa vorzustellen.
„Das würde mir gefallen“, sagte Jun.
„Prima! Jetzt habe ich einen berechtigten Grund, dir meine Piercings zu zeigen.“
„Piercings?“
Ich stieß einen zufriedenen Laut aus und ließ ihn los. „Komm. Du wolltest das Haus sehen.“
„Das war, bevor ich von deinen Piercings wusste.“
„Ja.“ Gott, manchmal war ich so fies.
„Mehrere?“
„Allerdings.“
„Zum Beispiel wo?“
Ich erklomm die Stufen der Veranda und öffnete die Tür. „Da wirst du wohl eine gründliche Durchsuchung vornehmen müssen.“
Als wir eintraten, hielt Herb gerade einer Besuchergruppe einen seiner langatmigen, nicht besonders beeindruckenden Vorträge. Ich bedeutete ihm mit einem Wink, weiterzureden und führte Jun die Treppe hinauf. Im ersten Stock gingen wir am Schlafzimmer und den Kinderzimmern vorbei, bevor wir die Treppe zur nächsten Etage erreichten. Der zweite Stock war wie üblich leer und still. Touristen blieben niemals lange hier oben, obwohl das Büro des Captains meiner Meinung nach zu den interessanteren Teilen unserer Ausstellung gehörte.
„Ein beeindruckendes Haus“, sagte Jun, als wir in der zweiten Etage angekommen waren.
„Danke. Ich habe hier mehr Zeit und Mühe investiert als an jedem Ort, an dem ich selbst gewohnt habe.“ Ich deutete auf den berüchtigten Schrank. „Tja, das ist er.“
Jun starrte die Tür an, dann zur Treppe, dann wieder auf die Tür. „Könntest du ihn kurz öffnen?“
Mit einem Nicken löste ich den Ösenhaken. Der Schrank war noch immer leer.
Ich musste zugeben, dass ein kleiner – sehr kleiner – Teil von mir sich wünschte, dass Skelli wieder da wäre, damit ich zumindest hätte beweisen können, dass ich am Morgen nicht plötzlich für kurze Zeit verrückt geworden war. Ich deutete auf die Rückwand. „Da war er.“
Jun betrat den Wandschrank und aktivierte die Taschenlampenfunktion seines Handys, um sich umzusehen.
„Nicht viel zu sehen, stimmt’s?“
„Ja.“
Mit einem leisen Grunzen zwängte ich mich vorsichtig neben ihn in den Wandschrank. „Ich habe die alte Tapete entfernt und dabei diesen Riegel gefunden“, erklärte ich und hob ein Stück Tapete an, um es Jun zu zeigen. „Dann hat ein Stück der Wand nachgegeben und Skelli ist rausgefallen.“
„Skelli?“
„Er hing einfach raus wie eine traurige, leere Piñata.“
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