»Hallo, Vater«, sagte sie, so unbefangen wie möglich. »Du wolltest mich sprechen, und schon bin ich da! Grenzt das nicht fast an Hexerei, wie?«
»Guten Tag, mein Kind«, sagte Direktor Grosser.
Er war ehrlich überrascht, seine Tochter zu sehen, und er begriff nicht, wie sie so schnell hatte kommen können – aber natürlich, sie mußte einen besonderen Grund gehabt haben, nach Bad Harsfeld zu kommen!
»Hast du dich mit Klaus Leonhardt getroffen?« fragte er.
»Ich? Wie käme ich denn dazu?«
Gisela setzte sich auf den Besucherstuhl gegenüber vom Schreibtisch. Sie wollte gerade ihre hübschen Beine übereinanderschlagen, besann sich aber noch rechtzeitig und stellte sie brav nebeneinander.
»Jedenfalls ist Klaus Leonhardt hier in der Stadt«, sagte Herr Grosser.
»Du bist schon der dritte Mensch, der mir das heute erzählt«, erwiderte Gisela sehr gefaßt, »aber eigentlich ist es doch keine solche Sensation, nicht wahr? Wir mußten doch damit rechnen, daß er vorzeitig entlassen werden würde!«
»Ich hatte nicht erwartet, ihn je wiederzusehen.«
Direktor Grosser beugte sich vor, legte die Fingerspitzen seiner knochigen Hände gegeneinander.
»Er war hier bei mir, Gisela… er hat mit mir gesprochen!«
Gisela gelang es prächtig, große erstaunte Kinderaugen zu machen.
»Was wollte er denn?«
»Kannst du dir das nicht denken?«
»Eigentlich nicht – oder doch …«
Gisela legte den Finger an ihre kleine Stupsnase.
»… entweder wollte er seinen Sohn sehen, oder aber er hat noch einmal versucht, dich davon zu überzeugen, daß er nicht der Vater ist!«
Alfred Grossers schmales Gesicht wirkte plötzlich sehr müde.
»Gisela«, sagte er, »du weißt, daß ich immer Vertrauen zu dir gehabt habe.«
Gisela schwieg und sah ihren Vater erwartungsvoll an.
»Ich bin immer überzeugt gewesen, daß du außerstande wärest, zu lügen. Schließlich haben wir dich von kleinauf zu äußerster Wahrheitsliebe erzogen.«
»Das stimmt, Vater.«
»Aber heute… zum erstenmal …«
Direktor Grosser gelang es nicht länger, sich zu beherrschen.
»Entweder ist Klaus Leonhardt ein Wahnsinniger, oder du bist eine Meineidige!« brach es aus ihm heraus.
Gisela saß ganz ruhig da, nur ihre geballten Fäuste verrieten ihre unterdrückte Erregung.
»Ich habe ihn schon immer für ein bißchen schizophren gehalten«, erklärte sie kühl.
»Du behauptest also nach wie vor, daß er es war, der sich an dir vergangen hat?«
»Ich behaupte es nicht nur, sondern ich habe es ja auch vor Gericht bewiesen. Ich hatte Zeuginnen – wenn du dich erinnerst. Willst du wirklich diese ganze Geschichte jetzt noch einmal aufrollen? Ich dachte, ich hätte sie glücklich überstanden.«
»Nicht ich will das, Gisela, sondern Klaus Leonhardt«, sagte Direktor Grosser ernst. »Er will beweisen, daß Christoph nicht sein Sohn ist!«
»Na, dann bin ich aber mal gespannt, wie er das anstellen will!«
»Durch eine erbbiologische Untersuchung, soviel ich verstahden habe. Er behauptet, in seiner Familie hätte es noch nie Rothaarige gegeben, und …«
Jetzt, zum erstenmal, fiel Gisela ihm ins Wort.
»Aber, Vater«, sagte sie, »das ist doch geradezu lächerlich! Soviel weiß doch sogar ich von der Vererbungslehre, daß ein solches Merkmal Generationen überspringen kann… außerdem kann es sich auch um eine Mutation handeln, eine neue Eigenschaft, die ganz plötzlich auftritt… das haben wir doch alles in Biologie gelernt!«
»Gebe Gott, daß du recht hast!«
Gisela beugte sich vor.
»Du glaubst diesem Menschen also mehr als mir?«
Direktor Grosser legte die Hand vor die Augen.
»Ich weiß einfach nicht mehr, was ich denken soll! Auf alle Fälle wird er überall herumlaufen und Lügen über unsere Familie verbreiten, und wenn ich ihn verklage, spiele ich ihm damit nur in die Hände, denn dadurch würde die Vaterschaftsfrage noch einmal vor Gericht aufgerollt!«
»Dann verklage ihn eben nicht«, sagte Gisela, »laß ihn doch reden, was er will. Er schadet sich damit selber mindestens so sehr wie uns!«
»Es geht auch um das Kind, Gisela… ein solches Gerede kann tödlich für Christoph sein! Denke doch nur daran, daß er in drei Jahren in die Schule kommt. Seine Kameraden werden es ihn entgelten lassen. Kleine Jungen können so bösartig sein!«
Gisela wurde blaß, ihre leuchtenden, blauen Augen wirkten plötzlich unnatürlich dunkel, das Lächeln auf ihren Lippen gefror.
»Ich weiß, daß du dein Kind liebst«, sagte Direktor Grosser, »und ich rechne dir das hoch an… im Hinblick auf die Umstände, unter denen du es empfangen hast …«
»Danke«, sagte Gisela mit steifen Lippen.
»Deshalb wirst du auch einsehen, daß Christoph fort muß!«
»Wohin?«
»In ein Heim. Besser noch… wir geben ihn zur Adoption frei!«
Einen Augenblick lang verhielt Gisela sich ganz still, dann, als hätte sie jetzt erst die ganze Tragweite dieser Eröffnung begriffen, sprang sie auf.
»Niemals, Vater! Das werde ich nicht zulassen!«
»Gisela, laß diesen Ton!« sagte Direktor Grosser streng. »Vergiß nicht, daß ich dein Vater bin …«
»Du bist nicht nur mein Vater, du bist auch Christophs Großvater!« rief Gisela erregt. »Du kannst und darfst den Jungen nicht verstoßen, ihn fremden Menschen überlassen, nur weil du einen Skandal fürchtest!«
»Den Skandal, mein Kind, habe ich schon durchgestanden – und wie mir scheint, in guter Haltung. Andere Eltern hätten sich von ihrer Tochter losgesagt, hätten sie in ein Erziehungsheim gesteckt… du hast allen Grund, dankbar und vernünftig zu sein.«
»Wenn ich andere Eltern gehabt hätte, wäre das alles wahrscheinlich gar nicht passiert!« platzte Gisela heraus.
»Sehr interessant«, sagte Direktor Grosser kalt, »würdest du so gut sein, diese ungeheuerliche Behauptung etwas zu präzisieren?«
Gisela begriff, daß sie zu weit gegangen war.
»So geht es immer«, murmelte sie, »nie gelingt es mir, dir meinen Standpunkt klarzumachen. Immer schaffst du es, daß ich mich ins Unrecht setze.«
»Weil du im Unrecht bist.«
Gisela nahm allen Mut zusammen.
»Nein, das ist nicht wahr, Vater«, sagte sie, »ich habe es jahrelang mit mir herumgetragen, aber jetzt muß es heraus. Du bildest dir ein, daß du mich prächtig erzogen hast. Aber das Wichtigste hast du bei deinem ausgeklügelten pädagogischen Plan vergessen. Verständnis und Liebe.«
Direktor Grosser lachte böse auf.
»Das wird ja immer schöner. Du wirfst uns vor, daß wir es dir, unserer einzigen Tochter gegenüber, an Liebe hätten mangeln lassen? Ja, wen sollen wir denn sonst noch auf der Welt lieben – außer dir?«
»Jedenfalls habt ihr es mir nie gezeigt. Ihr habt mir immer nur befohlen, und ich habe gehorchen müssen. Ich bin niemals aufgeklärt worden, und niemals habe ich über meine Wünsche, meine Sorgen, meine Hoffnungen… über die ganze maßlose Verwirrung, in der ich damals steckte… mit euch reden dürfen. Weder mit Mutter noch mit dir.«
»Kurzum, wir sind schuld, daß du ein Kind bekommen hast – wir, deine Eltern!«
Der Spott ihres Vaters schien an Gisela abzugleiten.
»Ihr seid mit verantwortlich«, sagte sie ernst, »ich war ja damals noch ein Kind. Und ihr seid heute auch mitverantwortlich für Christophs Schicksal. Ihr könnt ihn jetzt nicht einfach fortgeben wie einen zugelaufenen Pudel, der euch lästig geworden ist!«
»Gisela, bitte mäßige dich«, sagte Direktor Grosser unangenehm berührt, »was ist denn das für ein Vergleich! Der Junge ist mir in keiner Weise lästig …«
»Doch! Weil er dich immer wieder an das erinnert, was deiner behüteten Tochter passiert ist!«
Direktor Grosser zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb.
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