Wie Dahlhaus erläutert, hat sich Carl Czerny der Sicht seines Lehrers Reicha wenig später angeschlossen und interpretierte aus scheinbar gesteigertem Interesse an dessen Theorie die Sonatenform in einem nunmehr offensichtlichen Widerspruch zum musikalischen Sachverhalt der meisten Beispiele, wie Dahlhaus ausführt:
»Die Metapher ›dénoûement‹, die für die Wiederherstellung der Thematik in der Reprise nach den Verwicklungen in der Durchführung sinnvoll und angemessen sein mag, solange die Erinnerung an die Dramentheorie schattenhaft bleibt, verfehlt allerdings den musikalischen Sachverhalt, wenn man wie Czerny den Vergleich mit dem Drama presst und vom Anfang der Reprise als einer ›überraschenden Katastrophe‹ spricht.« (Dahlhaus 2001c/GS3, S. 610)
Das Ereignis »Reprise«, die Wiederkehr von Bekanntem als fundamentales musikalisches Gestaltungsprinzip, wird in der zugespitzten Interpretation Czernys kaum gewürdigt. Dennoch kann die Metapher der Sonatenhauptsatzform als Drama nachvollziehbare Analogien zwischen den musikalischen und den dramatischen Identitäten sowie den Prozessen der Verarbeitung von Material und Konflikten herstellen. Insbesondere die Akzentuierung des Widersprüchlichen, Dynamischen und Prozessualen wäre ein wichtiges Merkmal der Dramen-Analogie für den Sonatenhauptsatz.130 Mit Hinblick auf die Finalkonzeptionen vieler Sinfonien des (späteren) 19. Jahrhunderts ließe sich die Dramentheorie eventuell doch wieder als Analogie aufgreifen. Sie müsste dann aber auf Abfolge und Konzeption aller Sätze und nicht auf den Haupt- oder Kopfsatz bezogen werden. Die in romantischen Sinfonien über die Teilsätze hinweg ausgelegten musikalischen Gedanken, deren Verarbeitung und Aufgehen in einer Schlusswirkung bei gleichzeitiger Spannungssteigerung zum Ende hin passen nicht selten zu den erläuterten Konzepten der Dramentheorie.
Eine andere, bisher noch nicht musikwissenschaftlich untersuchte Analogie aus der Dramentheorie, die produktiv auf die musikalische Komposition angewendet werden kann, ist das »retardierende Moment«.131 Es ist ein musikalischer Abschnitt, der vom Innehalten, vom Anhalten der zuvor in Gang gesetzten Prozesse vor dem letzten, auf Schlusswirkung abzielenden Abschnitt eines Werkes geprägt ist. Das retardierende Moment liefert eine bisher unberücksichtigte Sicht auf Geschehen und Konflikte.
Das retardierende Moment hat die Aufgabe, die Spannung durch eine der Hauptrichtung entgegenwirkende Tendenz zu steigern. Bei einem tragischen Ausgang entsteht überraschend der Eindruck, dass plötzlich doch noch das Unglück verhindert werden könnte. Bei einem angestrebten glücklichen Ende erzeugt das retardierende Moment die Spannung durch Behinderungen der Lösung. Die so entstehende »Fallhöhe« lässt sich auf Musikstücke und deren angestrebte Finalwirkung übertragen. Der Erwartbarkeit thematischer, kadenzieller oder die Proportionen betreffender Redundanz in der Reprise einer Sonate oder den vergleichbaren Vorgängen bei der Abfolge von Variationen und einigen anderen musikalischen Gattungen wird etwas entgegengestellt. Daher kann ein retardierendes Moment auch außerhalb des Musiktheaters als musikdramaturgisches Mittel verstanden werden.
Ein weites Feld für Analogien öffnet sich bei Analysen der motivisch-thematischen Verarbeitung von musikalischem Material. Nicht selten zeigt sich hierbei ein scheinbar logischer Anteil, ähnlich der Kausalität einer sich aus inneren Notwendigkeiten und äußeren Wahrscheinlichkeiten heraus entfaltenden »Handlung«. Adorno bezeichnet solche Beobachtungen in den ersten Sätzen der 3., 5. und 7. Sinfonie von Beethoven als »Pathos des klassizistischen Symphonietypus«, den er von Mahlers romanhaftem »epischen Kompositionsideal« abgrenzt (Adorno 1960/1969, S. 88). Adornos Ausführungen zeigen, dass die Anlehnung an narrative Kategorien dann sinnvoll sein kann, wenn sich autonome Musik – wie im Falle von Beethovens und Mahlers Sinfonien – den tradierten Formkonzepten und damit auch den Rezeptionsgewohnheiten entzieht. Dies scheint produktiver als ein Hineinpressen von Musik entweder in eine zu begrenzte Sonatentheorie oder in Modelle der Dramentheorie. Wie Sponheuer am Beispiel des Terminus »Peripetie« zeigt, steht Adorno damit in einer – wenn auch noch relativ kurzen – Forschungstradition:
»Der Begriff ›Peripetie‹ als musikalische Kategorie ist wohl zum ersten Male in der Wiener Dissertation Heinrich Schmidts ›Formprobleme und Entwicklungslinien in Gustav Mahlers Symphonien. Ein Beitrag zur Formenlehre der musikalischen Romantik‹, Wien 1929, auf Mahlers Symphonien angewandt worden: Schmidt 81 ff. Er wird dort allerdings mehr psychologisch (›Betrachtung der psychologischen Steigerungen und Entwicklungen, die wie in jedem romantischen Werk auch in Mahlers Symphonien den Kern der Anlage bilden‹ Schmidt, 81) als strukturell akzentuiert. Der Adorno’sche Begriff des ›Durchbruchs‹ (vgl. Adorno, Mahler, 10–24, 60 ff.) entspricht weitgehend dem der Peripetie, allerdings ohne im geringsten dessen psychologische Motivation zu teilen.« (Sponheuer 1978, S. 52, Anm. 5)
Als ein interessanter neuerer Versuch, literarische Kategorien auf Musik zu übertragen, ist ein Kongress-Beitrag von Jens Marggraf zu nennen, der bereits folgendermaßen kommentiert wurde:
»Die Überführung von Analyse in Musikästhetik realisierte mustergültig Jens Marggraf (Halle), der eine Annäherung an den Kompositionsstil C. Ph. E. Bachs ausgehend von analogen Strukturprinzipien in Laurence Sternes Roman Tristram Shandy suchte. Dabei gelang ihm eine verblüffende Parallelisierung von literarischen Techniken der englischen Empfindsamkeit mit kompositorischen Strategien in Bachs Rondos und Fantasien.« (Froebe 2006, S. 368)
Der von Marggraf angestellte Vergleich mit Laurence Sternes Roman The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman 132 ist auch insofern interessant, als dass Sterne ein Vorbild für Jean Paul war, der (wie im vorigen Kapitel ausgeführt) bedeutsam für die musikalischen Romantiker (allen voran E. T. A. Hoffmann, R. Schumann und H. Berlioz) war.
Bei allen bemerkenswerten Analogien in der Geschichte der Musiktheorie, die zum Drama, Roman oder aber zu Modellen der Rhetorik hergestellt werden können, geht jedoch keines der Analogiekonzepte vollständig auf. Die narrativen und dramaturgischen Implikationen, die von diesen Analogien angesprochen werden, sind aber von großem Interesse für die musikalische Analyse und für die von Dramaturgie thematisierten Fragen zum Zusammenhang von Struktur und Wirkung prozessualer Künste. Greifbar werden sie durch miteinander in Beziehung tretende und aus anderen Kunstgattungen vertraute Wirkungsmechanismen und Strukturähnlichkeiten. Durch Analogien verbalisierbare Ideen verbinden sich so mit einer abstrakt bleibenden musikalischen Welt, die viele individuelle Reflexionen und Resonanzen zulässt.
1.3 Zusammenfassung Kapitel 1
Dramaturgie hat eine praktische, auf die Aufführung gerichtete und eine theoretische Seite, die Strategien, Grundsätze und Normen systematisiert. Sie ist auch als eine Methode geeignet, künstlerische Werke in den Erscheinungsformen der zeitbasierten, darstellenden Künste zu durchdringen. Die Kategorien der Dramaturgie sind dafür geeignet, Erzählkunst und rezeptionsästhetische Modellvorstellungen des darstellenden Erzählens begrifflich und künstlerisch zu fassen. Dabei wird das Publikum ins Zentrum der Betrachtung gerückt. Darin unterscheidet sie sich z. B. von der Narratologie. Mit Dramaturgie kann man die in einer Geschichte verhandelten Themen kreativ durchdenken. Sie ist weniger als ein fest gefügtes Regelwerk zu verstehen, als das sie oft eingegrenzt wird, sondern bündelt Überlegungen und Konzepte, um die für eine (filmische) Erzählung geeignetste Relation von Handlungsaufbau, Wirkung und Glaubwürdigkeit zu erreichen. Dazu gehört auch der Aktualitätsbezug der Geschichte und ihrer Form. Die Vielfalt der erzählerischen visuellen und auditiven Mittel, darunter Sprache, Affektlaute, Geräusche und Musik, wird von Dramaturgie in eine notwendige Begrenzung geführt.
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