Die Affinität von Filmschaffenden für die Verwendung der Musik von Wagner und Mahler im Film hängt, so lässt sich mit einer gewissen Sicherheit vermuten, mit der in ihrer Instrumentalmusik schon enthaltenen Wechselwirkung von musikalischer Form mit Ideen- und Gefühlswelt zusammen. Die Gedanken, Ideen und Gefühle, die sich in einem musikalischen Ideenkunstwerk niedergeschlagen haben, können bei zitierter, präexistenter oder an jene Tonsprache angelehnter Musik in die filmische Erzählung integriert werden, z. B. zur Strukturbildung, Sinnstiftung oder Illustration. Bis ins Letzte bestimmbar sind die Ideen jedoch – zumal in einem neuen, tatsächlich narrativen Kontext eines Films, der ihre ideelle Bedeutung allerdings auch einengen kann – nicht.
1.2.3 Narrative Metaphern und Formmodelle für Musik
In der angloamerikanischen Musikwissenschaft wird seit ca. 1990 über Analogien zwischen musikalischen und narrativen Prinzipien nachgedacht. In dazu gehörenden und anderen Untersuchungen zeigen sich unterschiedliche Tendenzen, die von allgemeinen Vergleichen zwischen Handlung, Charakteren usw. und musikalischen Gestalten, Prozessen usw. bis hin zu sehr direkten Vergleichen reichen, die selbst Zeitformen und die Unterscheidung von erster oder dritter Person suchen.114
Fred Maus beruft sich auf Heinrich Schenker (Schenker 1935/1956), dessen Vergleiche zwischen alltäglichen Erfahrungen und deren künstlerischen Übersetzungen die Möglichkeit zulassen, musikalische Ereignisse als Teil einer »musikalischen Handlung« zu verstehen:
»Schenker’s remarks suggest the possibility of a generalized plot structure for tonal music; his list of ›obstacles, reverses, disappointments‹, and so on enumerates, informally, kinds of event in musical plots […].« (Maus 1991, S. 4).
Doch auch schon in seiner Harmonielehre (Schenker 1906) zeigt sich eine narrative Implikation: Die in einem Ton enthaltene Tendenz zur Hinzufügung der Quinte (gefolgt von der Terz als Ergänzung zum Dreiklang) kann als prozessuale, in die Zukunft gerichtete Analogie gelesen werden. Dagegen wäre die »Inversion« (Schenker 1906, S. 44 ff.) zur Unterquinte bzw. zum Quintfall als »Vergangenheit« des Tons zu verstehen. Damit steht Schenker allerdings einer anderen Tradition entgegen: der Rameau’schen Fundamenttheorie, die sich seine Zeitgenossen Simon Sechter, Anton Bruckner und Arnold Schönberg zu eigen machten, welche genau umgekehrt die Tendenz zum bzw. Auflösung mit einem Quintfall als in die Zukunft gerichtete Erwartung auffasst.
Einige neuere Arbeiten zeigen Versuche, narrative Kategorien möglichst direkt zu übertragen, z. B. die grammatikalischen Fragen nach der ersten oder dritten Person oder dem Vorhandensein verschiedener Zeitformen, insbesondere einer Vergangenheitsform in musikalischen Strukturen.115 Raymond Monelle behauptet, dass harmonisch oder thematisch fest gefügte Abschnitte (insbesondere Themen und Themenblöcke) der Schilderung von Vergangenheit entsprächen, Entwicklungsteile (Überleitung, Modulation, Durchführung, rhythmische oder harmonische Verdichtung) dagegen mit der Schilderung von gegenwärtiger Handlung vergleichbar wären (Monelle 2000, S. 102).
Schon Heinrich Christoph Koch hatte in seinem 1802 veröffentlichten Musikalischen Lexikon den Versuch unternommen, musikalische Logik anhand der Zuweisung von Subjekt und Prädikat fassbar zu machen, nahm davon aber aufgrund der nicht zu leugnenden Beliebigkeit bei der Zuordnung wieder Abstand.116
Musikalische Prozesse könnten zwar nach Auffassung von Nattiez, der immer wieder im Zusammenhang von Narrativität und Musik zitiert wird, die prozessuale Gestalt einer Handlung annehmen, aber nicht mit Bedeutung gefüllt werden:
»If, in listening to music, I am tempted by the ›narrative impulse‹, it is indeed because, on the level of the strictly musical discourse, I recognize returns, expectations and resolutions, but of what, I do not know.« (Nattiez 1990, S. 245)
So blieben nur Metaphern, schlussfolgert Nattiez weiter (Nattiez 1990, S. 257).
Musikalische Narrativität ist in der angloamerikanischen Forschungslinie, die auch von Kanada ausgeht und in Frankreich rezipiert wird und teils das Vokabular der russischen Formalisten aufgreift, durch entweder sehr direkte Analogien zu literarischen Kategorien geprägt oder wird wegen der Begrenztheit dieser Versuche kritisch hinterfragt, besonders wegen der schwer zu klärenden Frage nach Inhalt, Bedeutung oder der Botschaft von Musik und worin musikalische Logik außerhalb der motivisch-thematischen Arbeit begründet sei.
Im deutschsprachigen Raum greifen Markus Bandur117 und Hartmut Fladt118 die Idee auf, Begriffe der Filmtheorie musikwissenschaftlich zu beleuchten. Plot – das englischsprachige Wort für Handlung bzw. Sujet119 – steht bei Bandur allerdings für das, was ich als Fabel bezeichnen würde:
»Der Ausdruck Plot, der in der Literaturwissenschaft und davon ausgehend in der Filmtheorie zur Bezeichnung einer Handlung beziehungsweise ihres Kerns, ihrer kausalen Stimmigkeit und ihrer strukturellen Logik dient, kann dementsprechend in der Musik den in Sprache übersetzbaren ›Angelpunkt‹ oder die umfassende Grundidee eines musikalischen Gebildes bezeichnen, aus dem beziehungsweise der heraus sich seine individuelle Formung verstehen und erklären läßt. […] Wie jeder Beschreibung musikalischer Sachverhalte durch Wortsprache haftet der Herausarbeitung eines Plots in der [musikalischen – R. R.] Analyse dabei der Charakter des Metaphorischen und Analogischen an.« (Bandur 2002, S. 69)
Mit »Angelpunkt« und »umfassende Grundidee« beschreibt Bandur eigentlich den für die Fabel charakteristischen inneren Zusammenhang, den geeigneten Ausgangspunkt, aber auch das Entwicklungspotenzial des Materials und sich daraus ergebende Beziehungen der Teilelemente untereinander. Der erste zitierte Satz von Bandur ist allerdings ungenau: Plot heißt Handlung, der sogenannte Kern der Handlung wäre die Fabel bzw. story .120 Der frühere musiktheoretische Begriff dafür ist »Anlage« von Heinrich Christoph Koch (Koch 1782/1787/1793), der – wie Hartmut Fladt bemerkt (Fladt 2009, S. 13) – seit Ende des 18. Jahrhundert in Philosophie und Musiktheorie geläufig ist.121
Das Konzept vom »ästhetischen Subjekt« (Danuser 1975, S. 15) überbrückt eine Reihe von Schwierigkeiten bei der Analogiebildung zwischen literarischer und musikalischer »Narrativität«. Es tritt nicht nur als moralische Instanz auf, sondern kann auch ähnlich einer narrativen Instanz musikalische Vorgänge strukturieren und sogar kommentieren.
Beispiel: L. v. Beethoven: Klaviersonate Nr. 17 (op. 31, 2)
Ludwig van Beethovens Musik »kommentiert« die von ihm provozierten Umbrüche – seinen vielzitierten »neuen Weg«122 – zuerst in den Klaviersonaten, dann auch in den Sinfonien. So beginnt z. B. der erste Satz Largo – Allegro in Beethovens Klaviersonate Nr. 17 (op. 31, Nr. 2) mit einem arpeggierten A-Dur-Sextakkord, der die Assoziation an ein Rezitativ weckt. Es ist eine Form innerhalb von Vokalwerken, in der die Figurenrede oder aber der Bericht oder Kommentar eines Erzählers vorgetragen wird. Innerhalb der einleitenden 20 Largo-Takte erklingt die Gestalt des Sextakkordes ein weiteres Mal. Im Übergang zur Durchführung erscheinen in T. 93–98 drei weitere solcher Sextakkorde mit der Rezitativ-Assoziation. In der Reprise kehren die ersten beiden Sextakkorde wieder, nun erweitert durch etwas, das als wortloses, mit dem Klavier »gesungenes« Rezitativ bezeichnet werden kann. Es setzt sich deutlich von der Umgebung ab (T. 143–158) und ist mit con espressione e semplice überschrieben. Spätestens an dieser Stelle ist Raum für die Assoziation zu jenem Gestus, der für die Eröffnung von Rezitativen typisch wäre. Durch das eingefügte Klavier-Rezitativ und die rezitativisch anmutenden Sextakkorde als versetzt eingestreute Begleitakkorde verschafft sich inmitten des musikalischen Prozesses gleichsam ein »Erzähler« Raum und Gelegenheit zum Kommentar. Das scheint auch insofern in diesem Fall notwendig zu sein, da der erste Satz der Sonate die tradierten Auffassungen zur musikalischen Form ignoriert: Die barocke und klassische Idee der Affekteinheit innerhalb eines Satzes, die z. B. noch bei Haydn obligatorisch war, wird negiert, und die Ergänzung musikalischer Teile mit Taktgruppen, die einen Ausgleich von harmonischer und motivisch-thematischer Spannung bewirken, bleibt unvollkommen. In seinem persönlichen Experimentierfeld der Klaviersonate markiert Beethoven somit einen kompositorischen Neuanfang,123 der Außergewöhnliches in seiner musikalischen Dramaturgie offenbart. Im erwähnten Beispiel steht noch relativ deutlich und mit den genannten musikalischen Mitteln markiert das »ästhetische Subjekt« als imaginärer »Erzähler« oder »Moderator« vermittelnd zwischen Publikum und Werk.
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