Anne setzte sich auf die Schreibtischkante. „Klar weiß ich das, aber …“ Sie schaute auf ihren Finger.
„Brauchst du ein Pflaster?“, fragte Sabina.
„Nein danke, es blutet nicht mehr.“
„Magst du dann was anderes haben? Irgendwas Warmes vielleicht? Mokka?“ Sabina rieb ihre nackten weißen Arme, als fröre sie plötzlich.
Anne schüttelte den Kopf. Sie hatte heute in der Redaktion genug Kaffee getrunken. Dann sah sie das Dosenbier auf Sabinas Schreibtisch neben ihrem Computer.
„Hast du noch mehr davon?“
Sabina nickte und holte noch ein kaltes Bier aus dem Kühlschrank. Sie reichte es Anne.
„Woran arbeitest du?“ Anne schaute neugierig auf Sabinas Computerbildschirm. Sie hatte auch keine Lust mehr, über Torsten zu reden.
„Das ist eine Aufgabe, die wir in der Schule bekommen haben. Wir sollen lernen, wie man einen Webblog macht.“
Sabina drehte eifrig den Schreibtischstuhl zu ihrem Computer. Sie nahm die Logitech-Maus, die genauso schwarz war wie ihr Nagellack. Anne konnte nicht umhin zu lächeln. Es verblüffte sie zu sehen, wie sehr ihre Stiefschwester in den Aufgaben aufging, die sie in der Journalistenhochschule bekam.
„Ich habe einen Krimiblog gemacht.“
„Einen Krimiblog? Wovon handelt der?“
„Ich schreibe über Mordfälle, sodass die Leute es mitverfolgen und Tipps abgeben können, was passiert ist. Es ist ein bisschen abgefahren, es sind schon über 1000 Follower.“
„Krass!“, meinte Anne und nahm einen Schluck von dem kalten Bier.
„Ich schreibe über dieses Mädchen, das sie unter dem Eis in einem Ruderboot im Norsminde Fjord gefunden haben, aber ich weiß nicht besonders viel, weil so wenig rausgekommen ist. Kannst du mir helfen?“
„Ich weiß auch nichts, Sabina. Nicht mehr als das, was in den Nachrichten erwähnt wird. Aber woher weißt du das alles? Und woher hast du die Fotos?“
Der Blog, den Sabina gemacht hatte, ähnelte der Pinnwand einer Mordkommission. Es gab Fotos von Iris Bøgh Lykkegaard, natürlich nicht aus der Rechtsmedizin, aber einige davon sahen privat aus. Es gab auch Bilder von der Polizei, die hinter den Absperrbändern beim Norsminde Fjord arbeitete. Anne erkannte Roland Benito; auf einem der Fotos unterhielt er sich mit einigen Beamten. Es gab Bilder von der Gedenkfeier in der Kirche vom gestrigen Abend. Sabina war nicht da gewesen, also wer hatte sie gemacht?
„Erik hilft mir. Sein Bruder arbeitet bei der Polizei.“
„Das ist sicher nicht ganz legal. Wer ist dieser Bruder?“ Sabina zuckte gleichgütig die Schultern.
„Das könnte eine win-winSituation geben , falls ich etwas auf diesem Blog erfahre, was auch der Polizei helfen kann.“
Anne verschränkte die Arme und sah auf ihre Stiefschwester herab.
„Und was sollte das sein?“
„Du kannst dir einfach mal ein paar von den Kommentaren ansehen, die die Leute schreiben. Hier meint einer, dass die Frau, die auf dem Feld zusammen mit ihrem Hund getötet wurde, Iris ermordet hat. Sie war offenbar Lehrerin an der Askholt Privatschule, auf die Iris ging.“
„Pensionierte Lehrerin. Sie war da nur als Freiwillige“, stellte Anne richtig. „Aber das weiß die Polizei natürlich schon, Sabina.“
„Ja, aber guck dir mal diesen Kommentar von heute Morgen an.“
Sabina deutete darauf und sie stießen beinahe mit den Köpfen zusammen, um am Bildschirm zu lesen.
Der Kommentar stammte von jemandem, der sich Der Poet nannte. Anne schauderte, ohne so richtig zu wissen, warum. Es war fast ein Gedicht:
Iris verwelkt im Tod.
Blaue Iris lebt auf des Grabes Eis im Morgenrot.
Iris ist hübsch und kalt und tot.
In ihrem Schoß breitet sich das Eis rot.
„Da draußen gibt es so viele Verrückte, Sabina. Frag mal deinen Polizistenfreund, wie viele Hinweise sie in Mordfällen von kranken Personen erhalten, die nur Aufmerksamkeit haben wollen.“
„Das ist er sicher auch, dieser Poet hier – falls es ein Er ist. Was bedeutet ‚Blaue Iris lebt auf des Grabes Eis im Morgenrot‘? Iris liegt doch wohl immer noch in der Leichenhalle der Rechtsmedizin? Hast du etwas von irgendwelchen blauen Iris gehört?“
Anne schüttelte den Kopf. Gleichzeitig glitten ihre Gedanken zurück zu den beiden großen Fotografien von Iris’ blauen Augen an August Bøgh Lykkegaards Wand. Sie beschloss, sich morgen bei ihm zu melden und vielleicht die Untersuchung machen zu lassen, über die er gesprochen hatte.
„Nein. Siehst du, Sabina, da will sich nur einer interessant machen“, sagte sie und leerte die Bierdose.
Der Schweiß tropfte von seiner Stirn, lief in die Augen und ließ sie brennen. Sein T-Shirt war vorne und am Rücken nass und klebte unangenehm am Körper. Er schnappte nach Luft. Der Arm schmerzte, als der Schläger den harten Tennisball traf und ihn über das Netz schickte, wo Marianna schnell vorsprang und ihn zu ihm in die entgegengesetzte Richtung zurückschickte. Er schaffte es nicht, das Gleichgewicht zu finden, streckte nur den Schläger vor, ohne den Ball zu erwischen und hörte seine Enkelin laut lachen. Das war der Grund, warum er sich das antat. Er war Marianna nähergekommen, seit sie begonnen hatten, einmal pro Woche Tennis zu spielen. Rikke hatte sich über den Hang ihrer Tochter beschwert, immer vor ihrem Computer oder am iPhone zu kleben, ohne irgendetwas Aktives zu unternehmen. Roland hatte Marianna gefragt, ob es denn gar keinen Sport gäbe, den sie gut fände, und sie hatte ganz sicher geantwortet: „Doch, mit Opa Tennis zu spielen“, weil sie nicht damit gerechnet hatte, dass er diesen Wunsch erfüllen würde. Aber er hatte sie beim Wort genommen. Ob er damit sie oder sich selbst bestrafte, ist seither eine ihm häufig wiederkehrende Frage.
„Na! Was ist, Opa? Brauchst du eine Pause?“
Roland sah auf die Uhr in der Halle. Zu seiner Erleichterung war die Zeit fast um, sodass sie den Platz bald den nächsten Spielern überlassen sollten. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und traf Marianna am Netz. Sie schwitzte nicht annähernd so viel wie er. Als sie sich runterbeugte, um ihr Handtuch aufzuheben, fiel der dunkle Zopf vor über die weiße Nike-Schirmmütze, die hier drinnen in der Halle gar nicht notwendig war, mit der sie sich aber bestimmt wie ihr Idol Caroline Wozniacki fühlte. Sie wischte sich die Stirn ab und warf das Handtuch über die Schulter. Roland rubbelte ebenfalls sein schweißnasses Gesicht ab und lächelte, so gut er es in seiner Atemnot vermochte. Der Arm tat weh und sein Mund war trocken. Sie gingen zusammen zu den Umkleideräumen. Erst duschen, anschließend eine Limo im halleneigenen Kiosk, dann war die herausforderndste Verpflichtung dieser Woche überstanden.
Marianna hatte auch Lust auf ein Hühnchen- und Bacon-Sandwich, das er bezahlte. Er balancierte das Tablett an den Tisch, wo Marianna mit nassen Haaren und roten Wangen wartete. Er erwischte sie mit ihrem Smartphone.
„Hey, hattest du nicht eine Absprache mit deiner Mutter?“, fragte er und stellte das duftende Sandwich vor ihr ab. Jetzt konnte sie all die Kalorien zu sich nehmen, die sie gerade während des Spiels verloren hatte. Aber sie konnte es vertragen. Roland fand, sie war viel zu dünn geworden. Als Kind war sie pummelig gewesen.
Marianna lächelte und legte das Handy zurück in die Sporttasche.
„Ich musste nur gerade Solveig antworten. Ich übernachte morgen bei ihr.“
„Ach, macht man das immer noch? Übernachten?“, fragte Roland und nahm einen Schluck von seinem Mineralwasser.
Vielleicht war es nur sein Polizistenhirn, aber er hatte immer den Verdacht gehegt, dass so etwas immer etwas völlig anderes kaschierte, aber er hatte trotzdem nie angerufen und überprüft, ob Rikke oder Olivia wirklich bei der angegebenen Freundin schliefen oder ob sie mit den Jungs in der Stadt waren. Rikke schon. Sie hatte sogar mal darüber gesprochen, GPS für Marianna zu besorgen, sodass sie sehen konnte, wo sie sich befand. Das hatte Roland ihr ausgeredet und gesagt, sie müsse ihrer Tochter vertrauen. Aber die Zeiten änderten sich und er verstand ihre Sorge.
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