1 ...7 8 9 11 12 13 ...19 „Ja, und das sagt er erst, als wir im Auto sitzen und wegfahren, und er wollte nicht umkehren, damit wir sie nochmals befragen konnten.“
„Wir waren doch fast schon wieder beim Polizeipräsidium und es ist ja gar nicht sicher, dass die Kinder wissen, wen ihre Mutter kannte. Die wohnen doch auf Seeland, oder?“, gab Hafid zurück.
„Ja, okay, aber die wussten bestimmt, wo das Foto gemacht wurde! Auf die Art hätten wir herausfinden können, welche Verbindung Martha Bæk zu Iris hatte.“
„Das kann man doch wohl sicher mit einem Anruf klären. Hafid, darum kümmerst du dich, ja?“, forderte Roland ihn auf.
Hafid setzte sich und griff mit einem triumphierenden Blick zu Isabella nach dem Telefon.
Roland ging mit dem Kaffee zurück in sein Büro. Was war nur mit Isabella los? Er hatte sie als ruhige und ausgeglichene Frau in Erinnerung, die nicht so schnell aus der Haut fuhr. Natürlich hatte sie es in den letzten Jahren schwer gehabt mit ihrem Mann, der gehandicapt im Gefängnis saß, und mit einem teuren Hof in Skåde, den sie nicht loswurde. Er konnte nicht umhin, eine gewisse Mitschuld für ihre Situation zu empfinden. Er wollte dieses Anwesen sehr gerne kaufen, nicht nur, um Isabella zu helfen, sondern weil er es schon immer haben wollte. Aber Irene weigerte sich, umzuziehen. Sie wollte nicht aus ihrem Elternhaus in Højbjerg weg und weitere Schulden machen; die Villa genügte ihren Ansprüchen selbstverständlich auch. Jetzt hatten sie sie zudem wieder für sich allein, nachdem Irene nicht mehr als Ehrenamtliche für die Dänische Flüchtlingshilfe arbeitete. Sie hatte stattdessen eine Festanstellung in der Organisation bekommen, und, da der Flüchtlingsstrom nach Dänemark aufgrund der straffen Ausländerpolitik rückläufig war, konnten die Asylzentren die Unterbringung selbst stemmen und es gab keinen Bedarf mehr an privater Wohnhilfe.
Er hörte, dass Hafid das Telefonat beendet hatte und gedämpft mit Isabella sprach. Kurz darauf kam er in sein Büro.
„Dieses Foto wurde in der Askholt Privatschule gemacht. Martha Bæk hat da offenbar zwischendurch mal als Freiwillige gearbeitet. Sie war die ehemalige Dänischlehrerin an der Schule.“
Roland nickte; er hatte gesehen, dass Martha Bæk Lehrerin war.
„Es ist wohl an der Zeit, dass wir mit der Privatschule reden“, beschloss er, stand auf und nahm sein Tweedsakko von der Stuhllehne.
Hafid holte seinen Mantel und war startklar. Roland warf Isabella einen langen Blick zu. Er hätte lieber sie dabei gehabt, sodass sie sich im Auto hätten unterhalten können, aber sie tippte gerade etwas in ihren Computer und sah ihn nicht an.
Roland Benito war auch unter den Teilnehmern des Gedenkgottesdienstes in der Mallinger Kirche gewesen. Natürlich. Anne ärgerte sich immer noch darüber, nicht mit ihm gesprochen zu haben, aber er hatte sich am entgegengesetzten Ende der überfüllten Kirche befunden, wo mehrere Trauergäste an den Wänden entlang stehen mussten, und sie wollte nicht den Gottesdienst stören, indem sie sich einen Weg zu ihm bahnte. Als die Zeremonie vorüber war, hatte er sich lange mit einem Teenager unterhalten, den Anne schließlich als seine Enkelin Marianna wiedererkannt hatte – und plötzlich war er weg.
Nun tröstete sie sich damit, dass er bestimmt ohnehin noch nicht viel Neues zu berichten hatte seit der Pressekonferenz, als Iris gefunden worden war. Dabei hatte er an die Presse appelliert, ihre Familie nicht zu stören, die das Schlimmstmögliche erlebt hatte, was eine Familie sich vorstellen konnte, und selbstverständlich in tiefer Trauer war. Anne hatte gestern Abend einen etwas anderen Eindruck gehabt. Natürlich hatten August, Kaja und ihr Sohn Jakob während der Zeremonie Tränen der Rührung in den Augen gehabt, aber wer hatte das nicht? Sie selbst eingeschlossen. Als sie den leuchtenden Strom Fackeln sah auf dem Weg, den Iris nach Hause genommen hatte, war der Kloß in ihrem Hals so groß geworden, dass ihre Interviews mit den Teilnehmern des Zuges warten mussten, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte – und sie hatte Iris nicht mal gekannt.
„Bist du bald fertig?“, fragte Jytte Thomson und riss sie jäh aus ihren Gedanken. Anne war dabei, einen Bericht über einen weiteren Überfall auf dem Brabrandpfad zu redigieren, wo ein junger Mann niedergeschlagen und seines neuen iPhones und Portemonnaies beraubt worden war. Es gab also noch über anderen Kriminalstoff in der Stadt zu berichten als ausschließlich über die beiden Mordfälle.
„Ja, gleich. Warum?“
„Ich habe eine Besprechung mit dem Nachrichtenchef gehabt. Wir sollen in der kommenden Zeit den Fokus auf ein Thema legen, zusammen mit dem Hauptkanal.“
Jytte setzte sich an ihren Platz und spielte mit ihrem roten Kugelschreiber, der zu ihrem Brillengestell, dem Nagellack und ungefähr zu der Farbe der roten, lockigen Haare passte.
„Es geht um das Selbstwertgefühl der Jugendlichen und Mobbing. Immer mehr – selbst Kinder im Teenageralter – unterziehen sich plastischen Operationen, weil sie mit ihrem Aussehen nicht zufrieden sind. Es ist der Kampf darum, perfekt zu sein, auf den wir den Fokus legen sollen. Es muss ans Licht kommen, wie schwer viele Jugendliche es damit haben. Und du sollst mir helfen, Anne.“
Anne runzelte die Stirn.
„Und was hat das jetzt mit Kriminalfällen zu tun? Die
Polizei arbeitet an zwei Morden. Ist das nicht wichtiger als dass ein paar verwöhnte Tussis eine Schönheits-OP machen lassen, bloß weil ein Haar in einer Augenbraue in die falsche Richtung wächst?“
„Es geht ja nicht nur um verwöhnte Tussis, die Jungs sind auch in der Statistik vorne mit dabei. Natürlich ist es wichtiger, über die Morde zu berichten, wenn sich in den Ermittlungen etwas Neues tut, aber was willst du bis dahin machen? Hier rumsitzen und in der Nase bohren?“
„Ich will mich an den Kriminalstoff halten, der ist nun mal mein Fachgebiet. Ich finde, das ist viel wichtiger als die Sprösslinge von Tierkarten-Eltern, die nicht ihren Willen kriegen.“
„Tierkarten-Eltern?“
„Ja, die Sorte Eltern, die sich darüber beschwert, dass ihre Sprösslinge nicht alle Tierkarten für das Sammelalbum kriegen können, das Føtex und Bilka in der Werbung hatten. Oder Curling-Eltern oder Helikopter-Eltern – nenn sie, wie du willst.“
Anne sagte das, weil Jytte selbst so ein Elternteil war. Auch ihr Sohn wurde von vorn bis hinten bedient, ohne dass die geringsten Anforderungen an ihn gestellt wurden.
„Okay, dann kümmere ich mich einfach selbst um diese Sache hier“, sagte Jytte und zeigte Anne den Bildschirm ihres iPhones. Darauf war das Foto eines jungen Mädchens mit langen, schwarzen Haaren und einem netten, runden Gesicht.
„Was ist mit ihr?“
„Sie hat gerade versucht sich umzubringen, nach Aufforderung der Nutzer einer Hassgruppe, die gegen sie auf Facebook erstellt wurde.“
Anne riss die Augen auf. „Und die macht das einfach?“
Jytte legte den Kugelschreiber auf den Tisch und lehnte sich zu ihr herüber.
„In den sozialen Medien gibt es viel Mobbing, Anne. Einige der sensibleren Jugendlichen kommen damit psychisch nicht klar und dann kann es enden wie hier im Fall von Mille Søndervang – dass der Gemobbte versucht, sich das Leben zu nehmen. Glücklicherweise ist ihr das nicht gelungen, anderen aber schon. Meinst du immer noch, dass das nicht zum Thema Kriminalität gehört?“
„Ich habe natürlich von Selbstmord aufgrund von Mobbing gehört. Warum wurde sie überhaupt Opfer einer Hassgruppe?“, fragte Anne etwas interessierter.
„Es muss keinen besonderen Grund geben, es reicht, wenn du dich blamiert hast oder nach Meinung der anderen falsch aussiehst – ja, vielleicht, dass ein Haar in der einen Augenbraue in die falsche Richtung wächst. Milles Gesicht war wohl ein bisschen zu rund, um den Idealen zu entsprechen. Melonenkopf wurde sie unter anderem genannt.“
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