Vielen Dank, Martin Lange, dachte ich.
Natürlich gab es ihn. Er hatte sich auch Urlaub genommen und war zum Angeln gefahren. Nur in Magdeburg, da war er nicht aufgetaucht. Dafür aber hatte er sich vor ein paar Tagen im Westberliner Auffanglager Marienfelde registrieren lassen. Einem unserer Leute war sofort bei der Vernehmung der Gedanke gekommen, daß seine Identität für uns recht brauchbar werden könnte, und er hatte den DDR-Ausweis unauffällig einbehalten und dem Mann zu seiner großen Freude eine vorläufige westliche Kennkarte ausgestellt.
Der Boden brannte mir unter den Füßen, aber ich mußte nach der Devise handeln: Eile mit Weile, und das bedeutete: kurze Strecken. Ständiger Wechsel der Verkehrsmittel. Umwege, um das Ziel zu verschleiern. Gelegentlicher Krebsgang.
Die ersten fünf Kilometer ging ich zu Fuß.
Dann stieg ich in die Eisenbahn und rollte drei Stationen weit nach Westen, statt nach Nordost. Ich starrte zum Fenster hinaus und zählte die Bäume, die der Wind rüttelte. Dabei purzelte mir der Gedanke vor die Füße, daß Metzler seinem amourösen Abenteuer mit der Rotgrünen vielleicht einen Tag länger Leben verdankte.
Ab einem bestimmten Tempo wird Geschwindigkeit zu Hexerei. Ich traute den Stasi-Leuten vieles zu, jedoch nichts Übersinnliches. Sie mußten die beiden Co-Agenten schon früher verhaftet und zum Reden gebracht haben. Das erklärte auch, warum mich der Joker heute morgen über Kurzwelle zurückpfeifen wollte.
Am Bahnhof einer Kleinstadt, deren Namen ich vergessen habe, stieg ich aus. Gegenüber war ein Gemüsestand. Es gab endlich Frischobst.
„Um was stehen die denn Schlange?“ fragte ich.
„Mensch, das ist doch keine Schlange“, erwiderte der Fahrer eines Viehtransportes so laut, daß es auch die anderen hören mußten. „Das ist eine sozialistische Wartebrigade.“
Sie lachten, sie lachten gerne. Und sie schimpften gerne. Aber sie waren doch auf der Hut, nach beiden Seiten. Sie wollten nicht an den Unrechten kommen, aber auch nicht durch laute Sprüche in den Verdacht geraten, demnächst schwarz über die grüne Grenze den roten Machtbereich zu verlassen.
„Wo fährst du denn hin, Kumpel?“ fragte ich den Witzbold.
„Geht’s dich was an?“ erwiderte er. „Zur LPG nach Ludwigsfelde“, lenkte er dann ein.
„Mensch, ich muß nach Potsdam“, entgegnete ich. „Kannst du mich ein Stück mitnehmen, Sportsfreund?“
„Können schon“, versetzte er anzüglich. „Aber umsonst ist der Tod, und der kostet das Leben.“
Wir wurden rasch handelseinig, und ich stieg zu. Der Fahrer hatte lebende Schweine geladen. Sie grunzten laut und stanken abscheulich. Ich leistete als Fuhrlohn fünf Ostmark Anzahlung und versprach ihm zusätzlich drei Ami-Zigaretten. Ich hätte spendabler sein können, aber dadurch wäre ich nur aufgefallen.
Wir fuhren los, und nach der zweiten Zigarette wurden wir richtige Freunde. „Bin heute schon sechsmal kontrolliert worden“, sagte der Fahrer. „Scheißpolizei.“
„Die suchen einen Spion“, erwiderte ich.
„Die suchen immer einen“, versetzte der Mann am Steuer. „Schließlich ist ja auch alles besser als arbeiten.“ Er lachte. „Dir geht’s gut, wa? Haste Verwandte im Westen?“
„’ne verheiratete Schwester in Hamburg“, behauptete ich.
„Verwandte im Westen hab’ ick ooch“, versetzte er. „Aber die sind stinkgeizig. Die kennen uns ja nich mehr, so größenwahnsinnig sin’ se jeworden.“
„Da ist was dran“, räumte ich ein. „Aber meine sind nicht knickrig.“
Nach vier Kilometer näherten wir uns der ersten Straßensperre. Mit aufdringlicher Korrektheit gingen die Beamten um den schäbigen Viehtranspörter herum, rümpften die Nase und ließen uns weiterfahren.
„Das kommt auch nicht oft vor“, meinte der Fahrer. „Vielleicht war ihnen der Gestank zu säuisch.“
„Die reinsten Glücksschweinchen“, erwiderte ich lachend.
„Solange sie nicht meinen Führerschein anschauen, haben wir keine Scherereien“, sagte der Mann am Steuer. „Ich hab’ schon zwei rote Stempel. Du weißt ja, Kumpel, bei fünfen ist es Sense.“
Der Viehtransporter war für mich wie maßgeschneidert. Der Fahrer hatte seine drei Zigaretten weg. Um ihn bei Laune zu halten, bot ich ihm eine vierte an.
„Wieviel haste denn noch, Kumpel?“ fragte er lauernd.
Ich zählte nach. „Acht“, antwortete ich.
„Wenn’ste mir die Hälfte abgibst, mach’ ich ’nen Umweg und fahr’ dich nach Potsdam.“
„Das is’n Wort“, erwiderte ich.
Der Schweinetransporteur wählte eine Abkürzung, aber kurz nach dem Schild „Potsdam fünf Kilometer“, nach einer übersichtlichen Kurve, fuhren wir in die nächste Polizeisperre.
Mitten in der Straße stand ein Vopo mit der Kelle.
„Ausweis, Führerschein“, sagte er im barschen Ton.
Zum Glück präsentierte der Fahrer zuerst den Führerschein, und die roten Stempel stachen den Hütern des Gesetzes so in die Augen, daß sie Auspuff, Scheinwerfer, zulässiges Ladegewicht, Hupe und Winker gründlicher kontrollierten als meine Ausweispapiere.
Es war gut gegangen – aber die letzte Meile ist die längste, vor allem auf dem Weg nach Berlin.
Eine Viertelstunde später hatte mich mein ahnungsloser Fluchthelfer nach Potsdam geschafft. Er hielt an, um mich abzusetzen, übrigens in der Nähe von Schloß Sanssouci, zu deutsch: ohne Sorgen, und das war wohl die Untertreibung des Tages. Obwohl es von Potsdam aus nur noch ein Katzensprung nach Berlin war, freilich zu den Westsektoren – und sie waren momentan sorgfältiger bewacht als der Kronschatz in Londons Tower. Ich konnte nur über den östlichen Teil die ehemalige Reichshauptstadt erreichen, und das bedeutete, daß ich sie auf der Südseite umfahren mußte.
„Sag mal“, fragte ich im plötzlichen Entschluß den Fahrer der LPG-Ludwigsfelde. „Dir pressiert’s wohl nicht so?“
„Nee. Eijentlich gar nich. Kann doch alles auf die Vopos schieben, die mir ständig uffjehalten haben.“
„Dann kommen wir vielleicht noch einmal ins Geschäft“, erwiderte ich lockend.
Der Fahrer ließ sich leicht überreden; er stellte seinen Wagen ab und ging in das Café im „Haus des Handwerks“ an der Wilhelm-Pieck-Straße, ganz in der Nähe des sowjetischen Ehrenmals, das die Einheimischen „die unbekannten Plünderer“ nennen. Ich erwarb im HO-Warenhaus einige Requisiten für meine Rolle als Urlauber Martin Lange, kaufte ein knallbuntes Hemd, einen grünen Regenmantel, eine Schlägermütze. Ein Stockwerk tiefer erwarb ich einen kleinen Koffer und ein paar Angel-Utensilien. In der Parfümerieabteilung kaufte ich noch Rasier- und Waschzeug.
Dann ging ich auf die Toilette, wechselte das Hemd und verstaute den speckigen Pullover im neuen guten Stück aus Kunstleder. Staub gab es genug; ich machte meinen Finger feucht und verlieh dem Handköfferchen Patina. Rasier- und Zahncreme drückte ich halb aus der Tube; die Zahnbürste machte ich naß.
Es gab für mich nunmehr zwei Möglichkeiten: den Versuch, mich querfeldein nach Berlin durchzuschlagen, oder legal durch die Vopo-Kontrolle zu gehen. Schnappten sie mich beim illegalen Versuch, wäre ich erledigt. Wenn ich mich freiwillig der Kontrolle stellte, hatte ich eine weit größere Chance durchzukommen, denn im Vorgelände der Reichshauptstadt hielten die Uniformierten weniger nach Fritz Stenglein als nach Republikflüchtlingen Ausschau, wiesen jeden zweiten zurück und sahen vor lauter Bäumen keinen Wald mehr. Ich machte mir die Regel Mao Tsetungs zu eigen, „im Strom der Fische“ zu schwimmen.
Ich ging in das Haus des Handwerks zurück. Die Kellner machten einen großen Bogen um meinen Freund, es lag wohl am schweinischen Geruch, der ihm anhaftete, aber dann merkte ich, daß sie auch bei mir die Nase rümpften, und ich sagte mir befriedigt: Gestank isoliert. Es konnte mir nur lieb sein, wenn mir heute keiner zu nahe käme.
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