– Jetzt gehen wir nach Hause, sagte Cillia.
Hannah weinte auf dem ganzen Weg zum Auto. Auf dem Bahnsteig roch es nach Pipi. Es war spät und dunkel. Elisa dachte daran, dass doch eigentlich nicht die Mutter weinen sollte. Nicht die Mutter war auf den Vogel in ihrem Gesicht geschlagen worden, nur weil sie sich einen Hut wünschte.
»Du hast gesagt, hier wär kein Mensch.«
»Hab mich geirrt.«
Elisa drückte sich so dicht an die Wand unter dem Fenster, dass die, die jetzt im Wohnzimmer standen, sie wahrscheinlich auch dann nicht sehen könnten, wenn sie aus dem Fenster schauten. Sie stand ganz still da, mit aufgeschrammten Handrücken und geschlossenen Augen, konzentrierte sich auf die Stimmen aus dem Zimmer dort oben und versuchte, ihr eigenes hämmerndes Herz und ihren keuchenden Atem nicht zu beachten. Da oben redeten ein Junge und ein Mädchen miteinander. Der Junge war in ihrem Alter. Vielleicht ein wenig älter. Aber nicht älter als sechzehn. Das Mädchen war jünger, aber es war schwieriger, ihre Stimme einzuschätzen. Sie konnte zehn sein. Oder vierzehn.
»Du hast gesagt, das steht schon seit Jahren leer.«
Das war die Stimme des Mädchens.
»Hab mich geirrt.«
Das war wieder der Junge.
»Du bildest dir immer ein, du hättest so gute Ideen, Martin.«
Der Junge, der Martin hieß, redete nur in kurzen Sätzen. Als wisse er nicht genug Wörter. Als wisse er nur die Wörter, die er wirklich dringend brauchte.
»Können ja gehen.«
Ja, bitte. Bitte, geht. Elisa sagte das nicht laut. Sie dachte es nur. Bitte, geht. Geht weg. Lasst mich in Ruhe. Aber nein. Johanne hatte offenbar doch nicht so große Angst.
»Jetzt sind wir doch schon hier. Da können wir uns auch ein bisschen umsehen.«
Verdammt. Verdammt, verdammt, verdammt. Oben blieb es eine Weile still, während sie sich im Zimmer umschauten, und Elisa hätte gern gewusst, was sie sahen. Sie selber hatte nicht alles mitnehmen können. Nur Schlafsack und Proviant. Ob sie den Brief gefunden hatten? Cillias Brief, den Brief ihrer Großmutter. Den Brief, in dem Cillia zum ersten Mal über Bjerkebakk gelesen hatte. Hatten sie den gefunden? Lasen sie über Frida? Was war mit dem Bild des Hauses, so, wie es damals ausgesehen hatte, als Elisa noch hier wohnte? Was war noch dort oben? Fanden sie das kleine Notizbuch, in dem Elisa Dinge aufschrieb, die sie nicht vergessen wollte? Oder schlimmer noch: Brieftasche, Schülerinnenausweis, Buskarte. Hallo, hallo, ich heiße Elisa Bjerkebakk, ich bin eben vierzehn geworden und ich bin von zu Hause durchgebrannt. Ihr habt vielleicht in der Zeitung über mich gelesen? Ihr habt vielleicht in den Nachrichten über mich gehört? Das nicht? Aber das werdet ihr bestimmt bald. Und dann könnt ihr einfach die Polizei anrufen. Bitte sehr. Ich glaube, die Nummer ist 112.
»Hier ist es gar nicht schlecht.«
Das war wieder Johannes Stimme. Was machten sie? Was stellten sie da oben an?
»He, hast du das schon gesehen?«
Dann hörte sie ein Klirren, etwas schien zerbrochen zu sein. Kichern. Verdammt. Verdammt, verdammt, verdammt.
»Du, Martin. Und wenn die jetzt zurückkommen?«
Elisa öffnete die Augen. Riss sie weit auf. Starrte vor sich hin. Wusste plötzlich, was sie zu tun hatte. Tat es dann aber doch nicht. Nicht sofort. Weil sie etwas sah. Etwas, was sie nicht gesehen hatte, als sie gekommen war, in der Nacht, als es so dunkel gewesen war, dass sie den Weg von der Bushaltestelle bis hierher mit der Taschenlampe hatte suchen müssen. Jetzt sah Elisa die Berge. Als du klein warst, kamen dir die Berge in der Umgebung nicht groß vor. Vom Wohnzimmerfenster aus sind sie nicht größer als mein Kleiner Finger, hast du gesagt. Und vielleicht bist du deshalb so viel gelaufen. Bis zum Gipfel, ohne Tragsitz, ohne bei irgendjemandem Huckepack zu sitzen. Kann alleine, hast du gesagt. Ist doch nicht hoch, hast du gesagt. Mit wütenden Augen und wildem Gestrampel, wenn irgendjemand dir helfen wollte. Menschen, die am Meer aufgewachsen sind, behaupten, nicht leben zu können, ohne ab und zu blaugrüne See zu sehen. Sie sagen, dass sie sonst Kopfschmerzen bekämen. Auf dem platten Land leiden sie an Klaustrophobie. So geht es auch mit Menschen, die in den Bergen aufgewachsen sind. Bjerkebakk war früher einmal eine Art Alm. Ein Sommerhaus für die schönsten Höfe der Gemeinde. Es lag ganz hinten in einem Tal, auf allen Seiten von Bergen umgeben, und zum Fjord hin, zum Dorf hin, steht ein Wald und das Dorf ist nicht größer als ein Legodorf, irgendwer scheint alles aus roten und weißen Klötzen gebaut zu haben. Und zum Fjord hin strömt der Fluss. Er ist lang und schmal und an manchen Stellen nur ein Bach, einmal aber wird er zu einem großen tosenden Wasserfall. Und er strömte ohne Pause dahin, jeden Frühling, jeden Sommer. Den ganzen Weg, vom Eis her, das wir oben am höchsten Berg gerade noch ahnen konnten. Vom Eis, das grau und weiß und grün und blau war und an manchen Stellen alle Farben des ganzen Universums aufwies. Elisa erkannte keine Berge. Sie erkannte Gesichter. Sie erkannte sie in dem Moment, in dem sie die großen offenen Stellen sah, wo keine Bäume mehr wuchsen, wo es nur noch Steine und grüne Flecken gab. Von der Sekunde an, in der Elisa die Augen öffnete und die klaren scharfen Farben sah, die es nur dort gibt, wo die Sonne sich im Stein spiegeln kann, spürte sie zum ersten Mal, wie sich ihr Mund leicht verzog, wie das immer den Menschen passiert, die ganz und gar dazupassen, die genau wissen, wie sie sich zu verhalten haben, die genau wissen, was sie zu sagen haben, die zu Hause sind, zu Hause, zu Hause. Elisa atmete ganz schnell durch. Spürte, dass ihre Finger leise zitterten. Nicht wie Finger eigentlich, sondern eher wie Löwenzahnflaum. Als sei sie kein Mädchen, sondern ein dünner grüner Stängel. In Gedanken zählte sie schnell bis dreißig, dann tat sie, was sie tun musste, das Einzige, was hier zu tun war. Um in diesem Haus ihre Ruhe zu haben, um nicht nach Hause geschickt zu werden, um herauszufinden, was sie hier herausfinden wollte. Sie hustete. Laut. Nicht zu laut. Gerade laut genug, um von den anderen gehört zu werden.
»Martin, hast du das gehört?«
»Nein.«
»Ich glaube, da kommt jemand.«
»Ach.«
»Na komm schon, Martin. Komm, wir müssen los. Mama!«
Elisa blieb stehen und starrte vor sich hin, während sie die anderen weglaufen hörte. Sie blieb ganz still stehen, bis sie keine Räder mehr über Kies rollen hörte, bis diese Fremden, wer immer sie gewesen sein mochten, durch die Birkenallee geradelt waren, über den Waldweg, zurück zum Legodorf, aus dem sie gekommen waren.
Elisa und die Mutter hatten nicht auf Dauer bei Cillia wohnen wollen. Hannah hatte immer gesagt, das sei nur eine vorübergehende Lösung. Aber dann war sie auf dem Sofa liegen geblieben. Es hatte viele Tage gegeben, an denen die Mutter es nicht über sich brachte aufzustehen, an denen sie die Füße einfach nicht auf den Boden setzen mochte. So müde war sie. So müde kann ein Mensch sein. Und eines Tages war Elisa in die Schule gekommen. Danach war von Umzug nie mehr die Rede gewesen. Elisa besuchte eine Schule, die gar nicht weit von Cillias Wohnung entfernt lag. Und dabei blieb es dann. Vielleicht hörte es deshalb auf. Vielleicht wegen der Mutter, die den ganzen Tag auf dem Sofa lag und den Fernseher laufen hatte, aber auch wegen Cillia, die in der Küche saß und die Dominosteine hintereinander auf der Plastikdecke aufstellte. Sie stellte sie nicht nur in Reih und Glied auf. Sie stellte ihnen auch Hindernisse in den Weg. Cillia baute kleine Brücken aus Eierkartonresten, die die Dominosteine überqueren mussten. Wenn sie glaubte, dass niemand sie sah. Wenn sie sich nicht darauf konzentrierte, zu lächeln und zu lachen. Auch für Cillia hörte alles auf und das war vielleicht kein so großes Wunder, doch woran keine gedacht hatte, war, dass es auch für Elisa aufhörte. Sie wussten es nicht. Dass Dinge sich verändern und trotzdem stillstehen können. Dass keine mit einer befreundet sein will, deren Mama den ganzen Tag vor dem Fernseher auf dem Sofa liegt. Bei Elisa, da ist alles so komisch. Nicht so, wie es sein sollte. Hast du davon gehört? Hast du von ihrer Mutter gehört? Weißt du, warum immer ihre Oma zum Elternsprechtag kommt?
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