Anja rannte, Onkel Kurt hinter sich, erst zum Reiterstübel und trank dort ihren Sprudel. Sie hatte wirklich einen schrecklichen Durst gehabt, von der Aufregung, vom Schnellatmen beim Reiten. Dann zog sie ihn zum Stall. Darin guckte sie sich um, sah Cornelia, die im Stand bei Flieder war, und rief ihr zu: „Jemand will Sie sprechen! War wunderbar, alles ist begeistert. Ich geh’ wieder hin.“ Weg war sie. Onkel Kurt trat zu Cornelia in Flieders Stand.
„Vorsicht!“ sagte die und lachte. „Er mag es nicht, wenn zwei in seinen Stand kommen. Dann drängelt er und läßt einen nicht mehr raus.“
Sie war froh, daß Flieder diese Unart hatte. So konnte sie einigermaßen gut verbergen, daß sie rot geworden war, ziemlich rot und verlegen. Onkel Kurt merkte es nicht, er stand zwischen Flieders Hinterteil und der Boxenwand eingeklemmt und sah sie hilfesuchend an. Sie lehnte sich gegen Flieders Flanke und schob und schob mit ihrem ganzen Gewicht – nun konnte das Rotwerden auch davon kommen, wenn er es überhaupt hier im Dämmern des Stalles sah …
Unten in der Halle fanden jetzt ein paar lustige Spiele statt, die der Reiternachwuchs bestritt. Drei ungefähr gleichaltrige Reiterinnen mußten mit ihren Pferden an der kurzen Seite der Halle halten, während an der gegenüberliegenden, also direkt bei den Zuschauern, drei Eimer mit Wasser aufgestellt wurden. In jeden kam ein Apfel hinein. Dann wurde das Startzeichen gegeben.
Die Reiterinnen trieben ihre Pferde so schnell wie möglich auf die Eimer zu, sprangen ab und versuchten, mit den Zähnen den Apfel aus dem Eimer zu fischen, während sie mit einer Hand das Pferd am Zügel hielten. Die Äpfel waren nicht sehr groß, man konnte sie mit weit aufgerissenem Mund schon erwischen, aber es sollte ja ganz schnell gehen. Immer wieder plumpste ein Apfel zurück, die Reiterin wurde bespritzt, das Pferd warf den Kopf – alles lachte. Endlich hatte eine es geschafft, schwang sich, den Apfel im Mund, auf ihr Pferd und preschte zurück, die beiden anderen nacheinander ihr nach. Atemlos nahmen sie die Äpfel aus dem Mund und verfütterten sie an ihre Pferde, während die Zuschauer klatschten. Und dann kam ein neues Wettspiel dran, genauso spannend und erheiternd.
In der Mitte der langen Seiten war je ein etwa ein Meter hoher Leuchter aufgestellt, und darauf stand eine dicke, brennende Kerze. Nun mußten die Reiter – diesmal waren es sechs, drei Jungen und drei Mädchen – im Galopp vorbeireiten und sie ausblasen. Wer als erster eine Kerze ausblies, hatte gewonnen. Es war gar nicht so leicht, immer wieder galoppierten sie so nahe wie möglich vorbei und bliesen und pusteten, die Flammen der Kerzen bogen sich zwar zur Seite und flackerten, aber aus gingen sie nicht.
Und dann kam die „Reise nach Jerusalem“ zu Pferde dran, das war der Höhepunkt.
In der Halle wurden sieben Stühle im Kreis aufgestellt, und acht Reiter mußten rundum reiten, diesmal in flottem Trab. Der Reitlehrer stand mit den Zuschauern auf der Tribüne und hatte eine Tischglocke in der Hand. Wenn er klingelte, mußten die Reiter absitzen und, die Pferde hinter sich am Zügel, zu den Stühlen rennen, um sich zu setzen. Einer der Reiter blieb übrig, und der schied aus. Dann wurde ein Stuhl weggenommen, und es ging von vorn los.
Diesmal war auch Petra dabei, und zwar nicht auf Rumpel, sondern auf Moni, einer etwas hibbligen Araberstute – warum, wußte Anja nicht. Sie sah wie gebannt auf die Freundin, die es kaum fertigbrachte, Moni im Trab zu halten. An jeder Ecke versuchte die Stute, in Galopp zu fallen, bockte oder hob sich auf die Hinterbeine – Petra war darauf gefaßt und beugte sich vor, legte beide Arme um den Pferdehals, balancierte das Pferd aus. So, jetzt stand es wieder auf vier Beinen, los, weiter …
Alle Zuschauer hielten den Atem an. Und Petra mußte zum allgemeinen Bedauern schon beim zweitenmal ausscheiden, weil sie keinen Stuhl erwischte. Sie lachte aber und machte sich nichts draus, wie man deutlich sah. Moni hinter sich herziehend, verließ sie winkend die Halle und hatte noch einen kleinen Sonderapplaus.
Und wieder einmal ging es durch Anjas Herz hin: So wie Petra müßte man sein. So vergnügt, so mutig, so unbefangen. Alle liebten Petra – nie, ach, nie würde sie, Anja, so sein können.
… und was beinahe dabei passiert wäre
Anja schob sich zwischen den Zuschauern durch, um zu Petra zu gelangen. Es war schwierig; die Leute standen dicht an dicht, und sie kam nicht vorwärts. Schließlich gab sie auf. Petra hatte sicher schon abgesattelt und stürzte sich nun ihrerseits in das Gewühl, das auf der Tribüne herrschte. Gleich darauf klingelte es, und die Tür der Halle ging auf: Der Nikolaus kam.
Na, dann blieb sie also, wo sie war, um so mehr, als sie sah, daß der Nikolaus von einem Engelchen begleitet wurde, das sie sogleich erkannte: Petra. Sie mußte sich in rasender Eile umgezogen haben; sie trug jetzt ein langes weißes Nachthemd – über Hose und Stiefeln, wenn man genau hinsah hatte eine Perücke mit goldenen Lokken auf, die sie sehr veränderte, und sogar ein paar Flügel an die Schultern geschnallt. Ihr rundes Lausejungengesicht als Engelsköpfchen – alle lachten. Sie zog ein Pferd hinter sich her, das zwei vollgestopfte Säcke auf seinem Rücken trug. Das Pferd war Kerlchen. Anja fand es einerseits etwas belämmernd, daß man gerade Kerlchen genommen hatte; denn eigentlich kommt der Nikolaus ja mit einem Esel. Stufte man Kerlchen, der das Gnadenbrot bekam und höchstens hie und da einmal aushalf, jetzt als Esel ein? Andererseits war sie in seinem Sinne geschmeichelt. Es war doch eine Ehre, mit dem guten und geliebten Kinder-Heiligen gehen zu dürfen. Der Nikolaus hatte einen roten Mantel an mit weißem Fell innen, das am Kragen und an den Rändern eine ganz schmale Pelzkante bildete, auch die Taschen waren verziert. Er trug eine Maske, so daß man nicht sehen konnte, wer darunter steckte. Der Reitlehrer sicherlich nicht, zu ihm paßte die Rolle des Nikolaus’ auch nicht, er war eher streng als gütig. Eine hohe rote Mütze machte ihn noch größer.
Anja war von den immerzu drängelnden Zuschauern nach vorn an die Barriere geschoben worden und stand nun dort, hatte die beste Sicht und lachte Petra zu, die sie sah und ein wenig zu ihr emporwinkte. Mit dem Nikolaus, dem Engel und Kerlchen war noch jemand in die Halle gekommen: Othello. Er machte sich sehr drollig in seiner kleinen schwarzen Dickbäuchigkeit. Die Zuschauer lachten. Er ging um Kerlchen herum, hob die freche Nase und stellte sich dann zum Nikolaus, der ein Gedicht aufzusagen begann. Erst verstand man nicht viel, dann aber, nach einem allgemeinen Zischen: „Ruhe! Wir wollen was hören!“, legte sich das Gemurmel der Zuschauer, und nun konnte man verstehen, was der Heilige sagte. Es bezog sich auf die Reiterei, das Pech oder das Glück der einzelnen Reitvereinsmitglieder, das sie im letzten Jahr gehabt hatten, und war in drollige Verse gekleidet. Immer wieder gab es Gelächter bei den Zuhörern.
Dann hob der Nikolaus mit Hilfe seines Engelchens den ersten Sack von Kerlchens Rücken herunter, machte ihn auf und entnahm ihm ein eingewikkeltes Geschenk nach dem anderen. Auf den Päckchen stand in großen Buchstaben der Name des jeweiligen Vereinsmitgliedes, und der Nikolaus las ihn, sagte zwei Zeilen, die darunter standen, etwa:
„Ein Mähnenkamm für Thilos Flieder,
und für ihn selbst auch hin und wieder“,
und dann lachte alles, weil Thilo zu den jungen Männern gehörte, die sich mit wallenden Locken schmücken, ob es Mode ist oder nicht, und diese nicht ganz so sorgsam pflegen, wie das bei einer solchen Haartracht nun einmal nötig ist, mögen sie Männer oder Mädchen tragen. Der Jubel der Zuhörer war jedesmal groß.
Freilich, einer störte diese hübsche Vorführung: Othello. Er fand sich wohl zuwenig beachtet, jedenfalls lief er dauernd zwischen dem Nikolaus und seinem Engel, der die Geschenke auf die Tribüne hinaufreichte, hin und her, knabberte am Sack und steckte seine lackschwarze Nase hinein, und wenn der Nikolaus ihn wegscheuchte, erhob er sich drohend auf die Hinterbeine, legte den Kopf schief und boxte nach ihm. Die Zuschauer lachten. Dann aber begann er, Kerlchen zu ärgern – er stieß ihn gegen die Vorderbeine und biß schließlich in seinen Schweif.
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