Jetzt waren die Dinge anders.
Zwischen der Sauerstofftherapie, die seine Lungen in den ersten Monaten seines Lebens beweglich hielt und dem täglichen Medikamentenplan, den wir ihm auferlegt hatten, dachte ich, dass wir alles abgedeckt hatten. Immerhin hatten wir genug Vorräte. Die sollten eine Weile halten …
Ich schaute zum Spiegel hinüber und sah die Reflexion von uns beiden zurückstarren. Dann holte ich tief Luft und stieß diese mit einem weiteren Seufzer aus. Meine Augen landeten auf der Rasierklinge, die auf dem Waschbecken lag. Ich musste mich noch rasieren.
Ich trat vom Kinderbett zurück, in dem Tyler lag, und ging zum Wasserhahn rüber. Dort schmierte ich mir weißen Schaum auf die Wangen. Genau in diesem Augenblick klopfte es an der Stahltür, die zu unserem Zimmer führte. Ich rollte mit den Augen, ließ den Rasierer fallen und wischte mein Gesicht ab. Das Rasieren würde noch etwas warten und das würdevolle Äußere würde ich auf ein anderes Mal verschieben müssen.
Sanft entfernte ich die Maske von Tylers Gesicht und nahm ihn aus dem Kinderbettchen, während ich zur Tür ging und ihn an der empfindlichen Stelle unter den Armen kitzelte – genoss jeden Augenblick. Ich grinste, als sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete, das von einem rauen, aber echten Kichern begleitet wurde. Er streckte sich über meine Schulter, versuchte zu entkommen. Leider hatte der kleine Mann kein Glück.
Es spielte keine Rolle, dass es keinen Spion in der Tür gab. Ich wusste bereits, wer geduldig auf der anderen Seite wartete. Mit einem Seufzer griff ich zum Türknauf. Ich bemerkte den Ring, der an meinem Finger steckte, bevor ich den Knauf nach links drehte.
Wenn ich gewusst hätte, was bereits auf der anderen Seite des Komplexes vor sich ging, wäre ich viel vorsichtiger gewesen …
Die Tür öffnete sich mit einem vernehmbaren Quietschen von Metall auf Metall. Ich ließ ein Lächeln aufblitzen, aber es war nicht sehr überzeugend.
»Oh, du musst es nicht vortäuschen«, sagte sie, als sie die Hände ausstreckte, um Tyler in ihre Arme zu nehmen. »Ich weiß, dass du letzte Nacht keinen Schlaf bekommen hast. Also gib mir jetzt den kleinen Mann.«
Ich nickte träge und wischte ein kleines bisschen Creme weg, die ich vergessen hatte. »Nun, dir auch einen guten Morgen, Deanna.«
Deanna sah so gut wie jeden Tag nach Tyler. Vor langer Zeit war sie Mutter gewesen, aber sie sprach nie davon. Zum Glück sagten mir die Falten in ihrem Gesicht, dass ihre Kinder schon erwachsen gewesen waren, als die Welt zu einem Scheißhaufen wurde. Ich wusste, dass sie nicht hier in Avalon waren, was allem Anschein nach bedeutete, dass sie womöglich nicht mehr unter den Lebenden weilten. Sie wusste das wahrscheinlich auch.
Tief unten in dieser Welt befürchteten wir das Schlimmste.
Ich legte eine Hand auf den Türrahmen und bemerkte das Hinken, das mit dem Alter kam, als sie in den Raum trat. Ihr graues Haar hatte sie zu einem Knoten gebunden und sie trug ein buntes Kleid, das locker über ihren Körper fiel.
Deanna liebte Tyler und ich machte mir nie Sorgen, wenn ich ihn bei ihr ließ. Sie war dieser perfekte Typ von Großmutter und ich habe mich oft gefragt, wie sie es überhaupt geschafft hatte, die ersten Tage zu überleben. Schließlich vermutete ich einfach, dass sie fest entschlossen war, zu leben, weil sie zu viel Angst vorm Sterben hatte … genau wie der Rest von uns.
Ich nahm die Flasche hoch, die ich zuvor gemacht hatte, und musste feststellen, dass sie leer war. Sie sah mich mit einem Blick an, der sagte: »Danke für deine Hilfe, du Depp!«
Ich streckte meine Hand vor mir aus und deutete auf mein Gesicht. »Ich habe noch nicht mal Zeit, um mich zu rasieren.«
Sie schüttelte den Kopf, während sie rüberging, um eine neue Flasche zu machen. Aus dem Augenwinkel sah sie mich an und fragte: »Was habt ihr Jungs heute vor?«
In Avalon suchte sie immer nach Staubkörnchen.
»Äußere Verteidigung.«
Verständnislos sah sie sich im Zimmer um und dachte gründlich darüber nach, bevor sie antwortete: »Außerhalb der Mauer?«
»Das ist es zumindest, was sie mir erzählt haben. Ich schätze, wir werden die Zis in den Stall der Toten treiben.«
»Ich hasse diesen Ort. Er scheint so gefährlich zu sein … Was ist, wenn sich die Dinger losreißen?«
Vor Monaten hatten wir eine bewusste Entscheidung getroffen. Wir beschlossen, außerhalb der Betonmauern von Avalon ein kleines Gehege zu bauen. Das Gehege, das zum Großteil aus stabilen Holzplanken gemacht war, sah aus wie ein alter, übergroßer Schuppen. Ein potenzieller Angreifer würde kaum wissen, dass dieser bis zum Rand mit Zis gefüllt war, die wir seit Monaten dort sammelten. Wenn irgendjemand, mit dem wir es nicht aufnehmen konnten, jemals beschloss, unsere Mauern zu stürmen, war dies die beste Verteidigung.
»Das ist der Punkt, Deanna. Sie sollen sich losreißen … wenn wir es wollen«, sagte ich und versuchte, ein wenig Zuversicht vorzutäuschen.
»Trotzdem mag ich es immer noch nicht …«
Ich nickte, ging zum Schrank rüber und holte einen abgewetzten, schwarzen Helm heraus, der zur schwarzen Panzerweste passte, die ich trug. Dann legte ich einen Schalter an meinem Gürtel um und hörte ein leises Rauschen durch das Sprechfunkgerät, das sich an meiner Schulter befand. Ich musste an die Herkunft des Anzugs denken. Ein Überbleibsel der gefallenen Menschen, die einst Avalon bewachten. Ich fühlte mich immer etwas seltsam in dem Wissen, das jemand wahrscheinlich darin gestorben war.
Ich griff in meinen Schrank und holte eine Neun-Millimeter heraus, die ich in den letzten Monaten mit mir herumgetragen hatte. Eine Waffe zu haben, ist eine lustige Sache. Es gibt einem ein falsches Gefühl von Sicherheit. In der Welt der Toten war es nur ein Stück Metall, das Projektile schoss. Es sei denn, man war ein Meisterschütze. Ja, manchmal war das effektiv, aber man konnte das Knirschen des Schädels nicht fühlen, um zu wissen, dass man den Job richtig gemacht hatte.
Dafür brauchte ich den Hammer.
Ich steckte die Waffe ins Halfter und griff wieder in den Schrank, um den Hammer herauszuholen, der unten lag und den ich seit Anbeginn an meiner Seite hatte. Mein zuverlässiger Hammer. Ich würde ihn nie für eine andere Waffe eintauschen, wenn ich gegen Zis kämpfen musste. Es ist schwer, jetzt zurückzublicken und zu wissen, wie viele Tote der Metallkopf ausgeschaltet hatte. Eines war allerdings sicher; ich war verdammt gut darin geworden, sie zu töten.
In dieser neuen Welt war ich zu einem Todbringer geworden, und dieser Hammer war mein Ass im Ärmel.
Ich zog feurigen Atem in meine Lungen und sah mit gezücktem Hammer nach oben.
Ich warf einen Blick auf den roten, blinkenden Wecker, der neben meinem Bett stand, und stellte fest, dass es fast an der Zeit war, sich oben mit dem Team zu treffen. Es war an der Zeit, meinen Sohn alleine zu lassen. Ich beugte mich zu ihm hinunter, hob ihn hoch und hielt seinen winzigen Körper vor mein Gesicht. Bevor ich das Gelände verließ, wollte ich eine gute Erinnerung einfangen. Ich würde es brauchen, um den Horror da draußen zu überstehen. Widerwillig gab ich ihn Deanna zurück, ging zum Spiegel und nahm das Rasiermesser vom Waschbecken. Gerade als ich wieder den schönen, weißen Schaum im Gesicht verteilte, hörte ich ein Rauschen im Lautsprecher an meiner Schulter, gefolgt von einer panischen Stimme: »Wir haben einen Stolperer!«
Fast hätte ich die Rasierklinge fallen lassen. Ich konnte fühlen, wie mein Herz losjagte. Es schlug gegen die Brustplatte meiner Panzerweste.
Deanna sah von der Couch auf und konnte meine alarmierten Gesichtszüge als Reflexion im Spiegel sehen. »Was ist los?«
»Wir haben einen Ausbruch«, sagte ich hastig, während ich nach einem braunen Handtuch griff, um den Rasierschaum von meinem Kinn zu wischen.
Читать дальше