Impressum
© 1976/2020 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-96688-092-3
Internet: www.vpm.deund E-Mail: info@vpm.de
Jan J. Moreno
An Land wartet das Grauen
Im Sommer des Jahres 1599 herrschte in vielen Dörfern entlang der Westküste Indiens Kriegszustand. Aber nicht Menschen hatten die bislang friedlichen Bauern, Fischer und Händler überfallen, sondern ein unüberschaubares Heer hungriger Ratten .
Selbst die Dorfältesten erinnerten sich nicht, jemals eine solche Plage erlebt zu haben .
Die Ratten waren überall, sie fraßen das Getreide auf den Feldern und die Ernte in den Scheunen, ja, sie schreckten auch nicht davor zurück, die Menschen anzugreifen und vor allem Kindern schwere Bißwunden zuzufügen .
Die Menschen setzten sich zur Wehr. Zu Tausenden wurden die Kadaver vergifteter und erschlagener Ratten auf Scheiterhaufen verbrannt, und ein ekelerregender Gestank hing über den Dörfern .
Aber dann hielt der Tod Einzug – schrecklich, unbarmherzig und grausam …
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Die Hauptpersonen des Romans:
Marunga– der indische Junge ist davon überzeugt, daß die weißen Fremden ihn und seine Leute töten wollen.
Jehab Singwan– der weise alte Mann hat beschlossen, die vier weißen Gefangenen seinen Göttern als Opfer darzubringen.
Hasardund Philip Killigrew, Batutiund Bob Grey– die vier Arwenacks sind in eine Lage geraten, die ihnen kaum eine Chance läßt, zu überleben.
Philip Hasard Killigrew– läßt sich freiwillig niederschlagen, um eine Möglichkeit zu finden, seine Männer zu retten.
Seit den frühen Morgenstunden wehte ein beständiger, lauer Südwestwind. Unter vollen Segeln durchpflügte die Schebecke des Seewolfs die gleichmäßige Dünung auf Ostkurs.
Das Leben an Bord erschöpfte sich in Routine. Lediglich vom achteren Grätingsdeck her erklang ein Hämmern und Sägen. Ferris Tucker besserte das Schanzkleid aus, das an manchen Stellen mehr Bleischrot aufwies als Holz – ein Andenken an Lord Hyram Scaleby, den Ersten Offizier der „Respectable“ und seine anmaßende Art. Aber der Lord hatte seine Lektion erhalten.
„Land voraus!“ hallte der Ruf des Ausgucks über die Decks.
Eine Viertelstunde später wurde die dunklere Färbung der Kimm deutlich. Wolken hingen über dem Landesinneren.
„Schiffe?“ fragte Philip Hasard Killigrew.
„Keine in Sicht“, erwiderte Dan O’Flynn, bevor er aus der Tonne am Großmast abenterte.
Ein gerade zwölf Jahre alter Junge trat ihm entgegen, ein blondes Bürschchen mit Haarwirbeln, Stupsnase und lebhaften grauen Augen.
„Mister O’Flynn!“ rief er. „Mister O’Flynn, Sir, ist das Ernakulam?“
Clinton Wingfield war erst vor wenigen Tagen zu den Arwenacks gestoßen, vorher hatte er zu den Pulveraffen, Backschaftern und Aufklarern der „Respectable“ gehört, auf die er in London gepreßt worden war. Er hatte nicht gezögert, sich den Korsaren anzuschließen, und die einzige sich bietende Gelegenheit sofort genutzt.
„Vergiß den Sir, Junge“, sagte Dan O’Flynn. „Du segelst nicht mehr auf dem Affenkahn, sondern auf einem Schiff freier englischer Korsaren.“
Wingfield nickte lächelnd. „Natürlich, Mister O’Flynn. Danke, Sir.“
Dan hüstelte verhalten. „Du gewöhnst dich noch daran. Und was Ernakulam anbelangt, der Ort liegt genau vor uns.“
„Toll!“ Clinton Wingfield riß überrascht und ungläubig zugleich die Augen auf.
Mittlerweile hatten sich einige Zuhörer eingefunden.
„Was ist daran so außergewöhnlich?“ fragte der Profos.
„Alles“, behauptete Clint. „Ich habe wenigstens mit fünf bis zehn Meilen Abdrift gerechnet.“
Carberry sperrte Mund und Augen auf, und als sein Mund wieder zuklappte, klang es fast wie ein Kanonenschuß.
„Hör mal, Jungchen“, sagte er grollend, „wenn du uns verhohnepipeln willst …“
„Laß ihn in Ruhe, Ed!“ Dan stellte sich zwischen die beiden. „Clint muß sich erst daran gewöhnen, daß nicht die gleichen bescheidenen Verhältnisse herrschen wie auf dem Viermastkahn der Lords.“
Die Küste wurde deutlicher, durch die Spektive war eine weithin hügelige, dicht bewaldete Landschaft zu erkennen. Ernakulam, der einzige auf den Karten eingezeichnete Ort, schien eine kleine Siedlung ohne prunkvolle Paläste, Tempel und Moscheen zu sein, aber mit dem Reiz des Landläufigen und Unberührten. Hier lagen noch keine portugiesischen Schiffe vor Anker, deren Mannschaften die Engländer als ungebetene Eindringlinge betrachten und dementsprechend mit Kanonendonner empfingen.
Aus diesem Grund hatte sich der Seewolf entschlossen, die Vorräte in Ernakulam zu ergänzen. Frischfleisch, Gemüse und Obst wurden inzwischen dringend gebraucht. Deutlich hatte Hasard noch die scharbockgeschädigten Männer der „Respectable“ vor Augen, denen der Mangel fast zum Verhängnis geworden wäre. Keiner der Arwenacks hatte je über Müdigkeit, Appetitlosigkeit, Muskelschmerzen und Blutungen des Zahnfleisches oder der Haut geklagt, da die Köche Wert auf eine vielseitige Verpflegung legten.
„Notfalls werde ich Tang und Seegras auffischen lassen und jedem, der nicht davon essen will, das Zeug mit Gewalt in den Rachen stopfen“, hatte der Kutscher gesagt, um seine Forderung nach einem Landfall zu untermauern.
Vom Achterdeck aus suchten der Seewolf und Don Juan de Alcazar, der ehemalige spanische Generalkapitän, mit ihren Kiekern das küstennahe Gewässer ab. Aber nicht ein Fischerboot zeigte sich.
„Kurs halten!“ befahl Hasard.
Die Küste ließ palmenbestandene Buchten erkennen. Erst weit landeinwärts lagen höhere Gebirgszüge.
„Ruder zwei Strich Steuerbord!“
Die Schebecke legte sich weiter nach Lee über. Der Abstand zum Land betrug noch knapp zwei Seemeilen.
„Will der Kapitän eine Peilung vornehmen, Dan – äh, Mister O’Flynn, Verzeihung, Sir?“ fragte Clinton Wingfield interessiert.
Dan lächelte.
„Du kriegst die richtige Anrede schon noch raus, wenn du ein paar Tage länger an Bord bist“, sagte er. „Denk daran, daß wir mit der ‚Respectable‘ weiter nichts gemeinsam haben als die Flagge, unter der wir segeln.“
„Aye, aye, Mister Dan, ich werd’s mir merken.“
„Was die Peilung betrifft, die ist überflüssig. Wir können uns darauf verlassen, jeden Moment den Hafen von Ernakulam zu sichten.“
Er behielt recht. Vorlich an Backbord, hinter einer vorspringenden Landzunge, öffnete sich eine kleine Bucht.
„Nehmt das Großsegel weg!“ befahl der Seewolf.
Mit verlangsamter Fahrt glitt die Schebecke auf die Hafeneinfahrt zu. Die ersten Häuser wurden sichtbar – flache, aus luftgetrockneten Ziegeln errichtete Gebäude ohne jeden Prunk. Zwei hölzerne Stege ragten etwa vierzig Yards weit ins Wasser. Drei kleine Einmaster lagen dort vertäut.
„Keine Portugiesen“, hörte Dan O’Flynn jemanden sagen. Es klang beinahe enttäuscht.
Das Besansegel wurde aufgetucht. Nur mehr unter der Fock und ziemlich genau vor dem Wind segelnd, näherte sich die Schebecke der Anlegestelle.
Irgendwo kläffte ein Hund, aber sonst lag eine ungewöhnliche Stille über der Bucht. Sogar Kinder, die üblicherweise lärmend am Ufer erschienen, um das fremde Schiff zu begaffen, blieben aus.
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