Hasard versteifte sich unwillkürlich.
„Weg mit der Fock!“
Mit der auslaufenden Fahrt konnte die Schebecke die Stege nicht erreichen. Dan verstand zwar Hasards Bedenken, teilte sie aber nicht.
„Es ist Mittagszeit“, sagte er. „Die Leute sitzen in ihren Hütten und essen.“
Der Seewolf schüttelte den Kopf. „Siehst du irgendwo die Rauchfahne eines Herdfeuers?“
Nichts regte sich in der Siedlung. Ernakulam wirkte wie ausgestorben. Nur die Fischerboote dümpelten sanft in der auflaufenden Dünung.
„Klar zum Ankern!“
Inzwischen waren mit bloßem Auge Einzelheiten zu erkennen. Am Strand lagen Netze zum Trocknen aus oder waren auf einfachen hölzernen Gestellen aufgehängt. Zwei Boote lagen kieloben und sollten offenbar repariert werden. Ein schmaler Pfad führte von den Stegen aus zu den etwa zweihundert Yards entfernten Hütten.
„Fallen Anker!“
Der Buganker klatschte ins Wasser. Langsam schwojte die Schebecke und drehte das Heck der offenbar verlassenen Siedlung zu.
„Das ist nicht gut“, maulte Carberry. „Riecht verdammt nach einer Falle. Warum sonst sollten sich die Leute in ihren Löchern verkrochen haben?“
„Ed hat recht“, sagte Ben Brighton. „Zwei portugiesische Schiffe genügen, um die Bucht abzuriegeln. Ich brauche wohl nicht daran zu erinnern, daß wir bei den momentanen Windverhältnissen nur mit Hilfe der Langriemen wieder auslaufen könnten. Einen Durchbruch würden wir so nie schaffen.“
Der Seewolf tat den Einwand mit einem Schulterzucken ab. „Vor den Portugiesen sind wir hier beinahe so sicher wie in der Themsemündung. Woher sollten sie wissen, daß wir ausgerechnet in einem Nest wie Ernakulam anlegen?“ Er wandte sich an den Stückmeister: „Al, schieß Salut! Wenn die Leute nicht taub sind, werden sie uns hören.“
Inzwischen hatten sich nahezu alle Arwenacks an Deck versammelt. Vermutungen wurden laut, daß Küstenpiraten das Dorf überfallen, die Männer niedergemetzelt und Frauen und Kinder als Sklaven verschleppt hätten.
„Wer tut so etwas?“ fragte Wingfield entgeistert.
„An der westafrikanischen Küste die Portugiesen und Spanier“, sagte Dan. „Aber in Indien – keine Ahnung.“ Er zuckte mit den Schultern, beschattete die Augen mit der flachen Hand und suchte erneut aufmerksam das Hafengebiet ab.
Nichts regte sich.
„Steuerbordculverinen klar!“ meldete Al Conroy.
Hasard nickte. Der Stückmeister senkte daraufhin die brennende Lunte.
Das erste Geschütz vor dem Achterdeck spie Feuer und dichten schwarzen Qualm. Das Dröhnen der Pulverexplosion und das Rumpeln der vom Rückstoß in die Brooktaue geworfenen Lafette hallten über die Bucht und klangen von den Hügeln mit schwachem Echo zurück.
Jenseits der ersten Häuser stieg schwerfällig ein Schwarm großer schwarzer Vögel auf, strich dicht über die Dächer hinweg und verschwand in einem Palmenhain.
Das schrille Kläffen war wieder zu vernehmen. Plymmie, die Bordhündin der Arwenacks, erschien auf dem Achterdeck und fletschte die Lefzen. Sie antwortete mit einem durchdringenden, klagenden Heulen.
„Was hat sie?“ fragte der Profos. „Ist sie läufig?“
Dan musterte die Hündin, deren Nackenfell sich sträubte. „Eher glaube ich, sie wittert etwas, was ihr nicht gefällt.“
„Vielleicht liegt ein Fluch über Ernakulam“, sagte Old Donegal Daniel O’Flynn. „Diese schwarzen Vögel …“ Was er noch sagte, ging in dem Lärm des zweiten Böllerschusses unter. Der Pulverdampf trieb auf die Anlegestelle zu, und plötzlich waren die Vögel wieder da. Sie brachen lautlos aus dem verwehenden Qualm hervor und strebten mit kräftigen Flügelschlägen der Schebecke entgegen. Im letzten Moment drehten sie ab.
Old Donegal schnaufte gequält auf.
„Habt ihr das gesehen, Leute? Für einen Moment dachte ich, die Biester wollten uns angreifen.“
„Sie haben es aber nicht getan, Dad“, sagte Dan. „Warum sollten sie auch?“
„Weil es Totenvögel sind – ihr nachtschwarzes Gefieder, die scharfen Fänge und die glühenden Augen verraten sie.“
„Das einzige was glüht, ist Als Lunte“, sagte Carberry. „Und wenn wir nicht bald willkommengeheißen werden, verliere ich meine Geduld und Gutmütigkeit. Dann bin ich dafür, daß wir uns einfach holen, was wir brauchen, und das ohne zu bezahlen.“
Dreimal klopfte Old Donegal mit seinem Holzbein auf die Planken.
„Geister und Dämonen, grausige Mächte hausen in dem Dorf“, deklamierte er mit dumpfer Stimme. „Spürt denn niemand, wie nahe sie schon sind? Wir sollten umkehren, solange noch Zeit dazu ist. Später wird Heulen und Zähneklappern sein.“
„He!“ sagte Big Old Shane lachend. „Den Spruch kenne ich doch. Steht der nicht in der Bibel?“
Die wenigsten achteten auf seine Bemerkung. Shane sah eine Reihe verkniffen wirkender Gesichter. Old Donegals Geschwätz steckte an.
„Erzähle mir einer, daß das normal sein soll“, sagte Jack Finnegan, dessen linken Arm immer noch ein wunderschöner weißer Verband zierte. Der Kutscher hatte sich alle Mühe gegeben, den Bruch fachgerecht zu schienen.
„Unheimlich“, pflichtete Paddy Rogers bei.
„Düsternis liegt über der Siedlung“, sagte Old Donegal orakelhaft. „Da sind unirdische Mächte am Werk. Laß den Anker lichten, Sir! Gegen Geister und Dämonen bestehen wir weder mit Culverinen noch mit Musketen und Blankwaffen.“
Von einigen Seiten erklang zustimmendes Murmeln. Andere, wie Shane oder Ferris Tucker, schüttelten nur verständnislos den Kopf.
„Ich will solchen Unsinn nicht mehr hören!“ sagte der Seewolf scharf. „Wir haben hellichten Tag, da spuken Geister bestenfalls in den Köpfen weißhaariger, griesgrämiger Miesmuscheln herum.“ Old Donegal Daniel O’Flynn versuchte zu protestieren, schaffte es aber nicht über den Ansatz hinaus, denn Hasard packte ihn kurzerhand an der Schulter und drehte ihn in Richtung Land. „Sieh genau hin! In einer Viertelstunde stehst du dort drüben und findest eine plausible Erklärung. Wenn nicht, dann kannst du von mir aus weiter dein törichtes Geschwätz verbreiten.“
Old Donegal stand da wie vom Donner gerührt. Nicht ein einziges Wort des Protestes drang über seine Lippen.
Auf den Schlag genau eine Viertelstunde später glitt eine der beiden Jollen der Schebecke an den vertäuten Fischerbooten vorbei.
Aus der Nähe betrachtet, wirkten die Boote dreckig und keineswegs so, als wären mit ihnen noch in den Morgenstunden Fischer zum Fang hinausgefahren. Regenwasser hatte sich binnenbords gesammelt und mit Flugsand und angewehtem Laub zu einer brackigen Brühe vermengt.
In einem der Kähne schwammen zwei aufgedunsene, von Ungeziefer bedeckte Fische. Eine Ratte floh quietschend vor den Arwenacks. Batuti brach ihr mit einem Schlag seines Riemens das Genick.
„Sieht nicht gut aus“, sagte er.
Bill deutete auf die toten Fische. „Vielleicht war Sturm, und die Boote konnten nicht auslaufen.“
„Alles Quatsch“, murrte Old Donegal. „Ihr verschließt die Augen vor der Wahrheit.“
Die Jolle schrammte am Steg entlang. Philip Killigrew junior schwang sich auf die von Algen überwucherten Bohlen und belegte die Vorleine.
„Seit vier oder fünf Tagen waren die Fischer nicht mehr draußen“, sagte er. „Das muß einen Grund haben.“
„Natürlich“, versicherte Old Donegal eilfertig. „Ich behaupte, daß die Bewohner von Ernakulam Hals über Kopf ihre Häuser verlassen haben.“
Hasard junior blinzelte seinem Zwillingsbruder zu. In seinem Blick lag inzwischen ebenfalls Besorgnis.
„Schon gut, Granddad“, beschwichtigte er. „Vielleicht hast du sogar recht. Aber bestimmt nicht, weil hier Geister ihr Unwesen treiben.“
Old O’Flynn ignorierte die ihm helfend entgegengestreckte Hand und schwang sich ächzend aus eigener Kraft auf den Steg, obwohl ihm die Beinprothese hinderlich war. Außerdem schwieg er, weil er eingesehen hatte, daß Worte allein keinen seiner Begleiter überzeugen würden.
Читать дальше