Hierauf erwidere ich erstens, daß diese Behauptung, mag sie nun richtig oder falsch sein, durchaus nichts mit dem in der »Stellung des Menschen« aufgestellten Satze zu thun hat, welcher sich nicht auf die Entwicklung der Windungen allein, sondern auf den Bau des ganzen Gehirns bezieht. Hätte sich Professor Bischoff die Mühe genommen, einen Blick auf p. 109 des kritisierten Buches zu werfen. so würde er factisch die folgende Stelle gefunden haben: »Und es ist ein merkwürdiger Umstand, daß, obgleich nach unserer gegenwärtigen Kenntnis ein wirklicher anatomischer Sprung in der Formenreihe der Affengehirne vorhanden ist, die durch diesen Sprung entstehende Lücke in der Reihe nicht zwischen dem Menschen und den menschenähnlichen Affen, sondern zwischen den niedrigeren und den niedersten Affen liegt, oder, mit anderen Worten, zwischen den Affen der alten und neuen Welt und den Lemuren. Bei jedem bis jetzt untersuchten Lemur ist das kleine Gehirn zum Theil von oben sichtbar, und sein hinterer Lappen mit dem eingeschlossenen hinteren Horn und Hippocampus minor ist mehr oder weniger rudimentär. Jeder Sahui, amerikanische Affe, Affe der alten Welt, Pavian oder Anthropoide hat dagegen sein kleines Gehirn hinten völlig von den Lappen des großen Gehirns bedeckt und besitzt ein großes hinteres Horn mit einem wohlentwickelten Hippocampus minor«.
Diese Angabe war eine völlig richtige Wiedergabe dessen, was zur Zeit, als sie gemacht wurde, bekannt war; durch die später erfolgte Entdeckung der relativ geringen Entwicklung der hinteren Lappen beim Siamang und dem Heulaffen erscheint sie mir auch nicht mehr als scheinbar abgeschwächt zu sein. Ungeachtet der ausnahmsweisen Kürze der hinteren Lappen in diesen beiden Species wird Niemand behaupten wollen, daß deren Gehirne auch nur im geringsten Grade dem der Lemuren sich nähern. Und wenn wir, anstatt Hapale aus ihrer natürlichen Stelle zu bringen, wie es Prof. Bischoff völlig unerklärlicher Weise that, die Reihe der von ihm ausgewählten und erwähnten Thiere wie folgt schreiben: Homo, Pithecus, Troglodytes, Hylobates, Semnopithecus, Cynocephalus, Cercopithecus, Macacus, Cebus, Callithrix, Hapale, Lemur, Stenops , so wage ich von Neuem zu versichern, daß der große Sprung in dieser Reihe zwischen Hapale und Lemur sich findet und daß dieser Sprung beträchtlich größer ist, als der zwischen irgend welchen zwei anderen Gliedern der Reihe. Professor Bischoff ignorirt die Thatsache, daß lange ehe er schrieb, Gratiolet die Trennung der Lemuren von den anderen Primaten factisch auf Grund der Verschiedenheit ihrer cerebralen Merkmale vorgeschlagen hatte, und daß Professor Flower im Verlaufe seiner Beschreibung des Gehirns des javanischen Lori die folgenden Bemerkungen gemacht hatte: 428»Und es ist besonders merkwürdig, daß in der Entwicklung der hinteren Lappen keine Annäherung an das Lemurengehirn mit kurzen Hemisphären bei denjenigen Affen stattfindet, welche, wie man gewöhnlich vermuthet, sich dieser Familie in anderen Beziehungen nähern, nämlich bei den niederen Formen der Gruppe der Platyrhinen«.
Soweit der Bau des erwachsenen Gehirns in Betracht kommt, rechtfertigen die sehr beträchtlichen Zusätze zu unserer Kenntnis, welche durch die Untersuchungen so vieler Beobachter während der letzten zehn Jahre gemacht worden sind, noch immer vollständig meine im Jahre 1863 gemachte Angabe. Es ist aber gesagt worden, daß selbst wenn man die Ähnlichkeit zwischen den erwachsenen Gehirnen des Menschen und der Affen zugiebt, sie nichtsdestoweniger in Wirklichkeit weit von einander verschieden sind, weil sie in der Art und Weise ihrer Entwicklung fundamentale Verschiedenheiten darbieten. Niemand würde bereiter sein, die Stärke dieses Argumentes zuzugeben, als ich, wenn derartige fundamentale Entwicklungsverschiedenheiten wirklich existierten. Ich leugne aber, daß sie existieren. Im Gegentheil besteht eine fundamentale Übereinstimmung in der Entwicklung des Gehirns bei dem Menschen und den Affen.
Von Gratiolet geht die Angabe aus, daß ein fundamentaler Unterschied in der Entwicklung des Gehirns der Affen und desjenigen des Menschen bestände, und zwar in Folgendem: es sollen bei den Affen die Furchen, welche zuerst auftreten, an der hinteren Gegend der Großhirn-Hemisphären gelegen sein, während beim menschlichen Fœtus die Furchen zuerst auf den Stirnlappen sichtbar werden. 429
Diese allgemeine Angabe gründet sich auf zwei Beobachtungen, auf die eines beinahe zur Geburt reifen Gibbons, bei dem die hinteren Windungen »wohl entwickelt« waren, während die der Stirnlappen »kaum angedeutet« waren 430(a. a. O. p. 38), und auf die andere eines menschlichen Fœtus der 22. oder 23. Woche des Uterinlebens, bei welchem Gratiolet bemerkt, daß die Insel unbedeckt war, daß aber nichtsdestoweniger »des incisures sèment le lobe antérieur, une scissure peu profonde indique la séparation du lobe occipital, très-reduit, d'ailleurs, dès cette époque. Le reste de la surface cérébrale est encore absolument lisse«. (a. a. O. p. 83.)
Drei Ansichten dieses Gehirns sind auf Tafel XI, Figur 1, 2, 3 des angeführten Werkes mitgetheilt; sie geben die obere, seitliche und untere Ansicht der Hemisphäre, aber nicht die Innenansicht. Es ist der Beachtung werth, daß die Abbildung durchaus nicht zu Gratiolet 's Beschreibung stimmt, insofern die Spalte (anterotemporale) auf der hinteren Hälfte der Hemisphärenfläche ausgeprägter ist, als irgend eine der auf der vorderen Hälfte unbestimmt angedeuteten. Wenn die Abbildung richtig ist, so rechtfertigt sie Gratiolet 's Schluß in keiner Weise: »Il y a donc entre ces cerveaux (nämlich dem eines Callithrix und eines Gibbon) et celui du fœtus humain une différence fondamentale. Chez celui-ci, longtemps avant que les plis temporaux apparaissent, les plis frontaux essayent d'exister«. (a. a. O. p. 83.)
Seit Gratiolet 's Zeit indessen ist die Entwicklung der Windungen und Furchen des Gehirns zum Gegenstande erneuter Untersuchungen gemacht worden von Schmidt , Bischoff , Pansch 431und ganz besonders von Ecker , 432dessen Arbeit nicht bloß die neueste, sondern auch die vollständigste Abhandlung über den Gegenstand ist.
Die schließlichen Resultate dieser Untersuchungen lassen sich wie folgt zusammenfassen:
1) Beim menschlichen Fœtus bildet sich die Sylvische Spalte im Laufe des dritten Monats des Uterinlebens. In dieser Zeit und im vierten Monat sind die Großhirn-Hemisphären glatt und abgerundet (mit Ausnahme der Sylvischen Vertiefung) und springen rückwärts weit über das kleine Gehirn vor.
2) Die eigentlich so genannten Furchen beginnen in dem Zeitraum zwischen dem Ende des vierten und dem Anfange des sechsten Monats des fœtalen Lebens zu erscheinen; Ecker hebt aber sorgfältig hervor, daß nicht bloß die Zeit, sondern auch die Reihenfolge ihres Auftretens beträchtlicher individueller Abänderung unterliegt. In keinem Falle indessen sind die Stirn- oder die Schläfenfurchen die frühesten.
In der That liegt die erste Furche, welche erscheint, auf der inneren Fläche der Hemisphäre (woher es ohne Zweifel kommt, daß Gratiolet , welcher diese Seite bei seinem Fœtus nicht untersucht zu haben scheint, dieselbe übersehen hat); es ist dies entweder die innere senkrechte (occipito-parietale) oder die Hippocampus Furche, da diese beiden dicht bei einander liegen und eventuell in einander laufen. Der Regel nach ist die Occipito-parietal-Furche die frühere von beiden.
3) In dem späteren Theile dieser Periode entwickelt sich eine andere Furche, die »postero-parietale« oder die Rolando'sche Spalte; ihr folgen im Laufe des sechsten Monats die anderen Hauptfurchen des Stirn-, Scheitel-, Schläfen- und Hinterhauptlappens. Es liegen indessen keine deutlichen Beweise vor, daß eine von diesen constant vor den andern erscheint; und es ist merkwürdig, daß an dem aus dieser Periode von Ecker beschriebenen und abgebildeten Gehirn (a. a. O. p. 212-13, Taf. II, Fig. 1, 2, 3, 4) die Antero-temporal-Furche (scissure parallèle), welche für das Affengehirn so charakteristisch ist, ebenso gut wenn nicht noch besser entwickelt ist, als die Rolando'sche Spalte, auch viel mehr markiert ist, als die eigentlichen frontalen Furchen.
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