Daß alle organischen Wesen mit Einschluß des Menschen viele Modificationen des Körperbaus darbieten, welche für dieselben weder jetzt von irgend einem Nutzen sind, noch es früher gewesen sind und daher keine physiologische Bedeutung haben, ist, soviel ich jetzt erkennen kann, wahrscheinlich. Wir wissen nicht, was die zahllosen unbedeutenden Verschiedenheiten zwischen den Individuen einer jeden Species hervorbringt; denn der Rückschlag verlegt das Problem nur wenige Schritte rückwärts; und doch muß jede Eigentümlichkeit ihre eigene wirksame Ursache gehabt haben. Sollten diese Ursachen, welcher Art sie auch gewesen sein mögen, gleichförmiger und energischer längere Zeit hindurch wirken (und es läßt sich kein Grund dafür annehmen, warum dies nicht zuweilen eintreten sollte), so würde das Resultat hiervon das Auftreten nicht bloß einer unbedeutenden individuellen Verschiedenheit, sondern einer scharf markierten constanten Modification sein, wenn auch einer Modification ohne physiologische Bedeutung. Structurveränderungen nun, welche in keiner Weise wohlthätig sind, können durch natürliche Zuchtwahl nicht gleichförmig gehalten werden, wennschon alle solche, welche nachtheilig sind, durch dieselbe werden beseitigt werden. Indessen würde Gleichförmigkeit der Charaktere natürliche Folge der angenommenen Gleichförmigkeit der anregenden Ursachen sein, wie auch in gleicher Weise Folge der ungehinderten Kreuzung vieler Individuen. Derselbe Organismus kann daher auf diese Weise im Verlauf aufeinanderfolgender Zeiträume nach einander mehrere Modificationen erlangen, und diese werden in einem nahezu gleichförmigen Zustande überliefert werden, so lange die anregenden Ursachen dieselben bleiben und freie Kreuzung eintreten kann. In Bezug auf diese anregenden Ursachen können wir hier, ebenso wie bei Besprechung der sogenannten spontanen Abänderungen, nur sagen, daß sie in einer viel innigeren Beziehung zu der Constitution des abändernden Organismus als zu den Naturbedingungen, denen derselbe ausgesetzt war, stehen.
Fußnote
113Die Autoritäten für diese verschiedenen Angaben sind angeführt in meinem Buche »Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication«. 2. Aufl. Bd. II, p. 365-382.
114Dieser ganze Gegenstand ist in dem 23. Capitel des 2. Bandes meines Buchs »Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication« erörtert worden.
115s. den für immer merkwürdigen »Essay on the principle of Population, by the Rev. T. Malthus «. Vol. I. 1826, p. 6, 517.
116Über das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestikcation. 2. Aufl. Bd. II, p. 127-130, 187.
117 Sedgwick , British and Foreign Medico-Chirurg. Review, July 1863, p. 170.
118The Annals of Rural Bengal, by W. W. Hunter . 1868, p. 259.
119Primitive Marriage. 1865.
120Der Verfasser eines Artikels im »Spectator« (12. March, 1871, p. 320) macht über diese Stelle die folgenden Bemerkungen: – » Darwin sieht sich gezwungen, eine neue Theorie über den Sündenfall des Menschen einzuführen. Er weist nach, daß die Instincte der höheren Thiere viel edler sind, als die Gewohnheiten wilder Menschenrassen, und sieht sich daher dazu getrieben, die Theorie wieder hervorzuholen – und zwar in einer Form, deren wesentliche Orthodoxie ihm vollständig entgangen zu sein scheint – und als wissenschaftliche Hypothese einzuführen, daß der Gewinn des Menschen an Erkenntnis die Ursache einer zeitweiligen, jedoch lange anhaltenden moralischen Verschlechterung war, wie sie sich in den vielen, besonders bei Heirathen beistehenden, sündlichen Gebräuchen wilder Stämme zeigt. Was weiter als dies behauptet denn die jüdische Überlieferung von der moralischen Entartung des Menschen in Folge seines Haschens nach einer ihm durch seine höchsten Instincte verbotenen Erkenntnis?«
121s. einige gute Bemerkungen hierüber von W. Stanley Jevons , A deduction from Darwin's Theory. »Nature«, 1869, p. 231.
122 Latham , Man and his Migrations. 1851, p. 135.
123 Murie und St. George Mivart sagen in ihrer Anatomie der Lemuriden (Transact. Zoolog. Soc. Vol. VII. 1869, p. 96-98): »einige Muskeln sind so unregelmäßig, daß sie keiner der erwähnten Gruppen irgendwie eingeordnet werden können«. Diese Muskeln weichen selbst in den beiden Seiten eines und desselben Individuums von einander ab.
124Limits of Natural Selection; in: North American Review, Oct. 1870, p. 295.
125Quarterly Review. April, 1869, p. 392. Es ist dieser Gegenstand in Mr. Wallace 's Contributions to the Theory of Natural Selection, 1870, in welchem alle hier angezogenen Aufsätze wieder veröffentlicht sind, ausführlicher erörtert worden. Der »Essay on Man« ist sehr gut kritisiert worden von Prof. Claparede , einem der ausgezeichnetsten (jetzt leider verstorbenen) Zoologen in Europa, in einem Artikel der Bibliothèque Universelle, Juni 1870. Die oben im Texte citierte Bemerkung wird Jeden überraschen, welcher Wallace 's berühmten Aufsatz: On the Origin of Human Races deduced from the Theory of Natural Selection gelesen hat, ursprünglich publiciert in der Anthropological Review, May, 1864, p. CLVIII. Ich kann mir nicht versagen, hier eine äußerst treffende Bemerkung Sir. J. Lubbock 's in Bezug auf diesen Aufsatz (Prehistoric Times. 1865, p. 479) zu citieren, wo er nämlich sagt, daß Mr. Wallace »mit charakteristischer Selbstlosigkeit dieselbe (nämlich die Idee der natürlichen Zuchtwahl) ohne Rückhalt Hrn. Darwin zuschreibt, trotzdem es bekannt ist, daß er diese Idee ganz selbständig erfaßte und sie, wenn auch nicht in gleich durchgearbeiteter Fülle, zu derselben Zeit veröffentlichte«.
126Citiert von Mr. Lawson Tait in seinem »Law of Natural Selection«. in: Dublin Quarterly Journal of Medical Science. Febr. 1869. Auch Dr. Keller wird als weitere Bestätigung citiert.
127 Owen , Anatomy of Vertebrates. Vol. III, p. 71.
128Quarterly Review. April 1869, p. 392.
129Bei Hylobates syndactylus sind, wie der Name es bezeichnet, zwei Finger regelmäßig verwachsen; dasselbe ist, wie mir Mr. Blyth mittheilt, gelegentlich mit den Fingern von H. agilis, lar und leuciscus der Fall. Colobus ist im strengsten Sinne Baumthier und außerordentlich lebhaft ( Brehm , Thierleben, Bd. I, p. 50); ob er aber ein besserer Kletterer als die Arten der verwandten Gattungen ist, weiß ich nicht. Es verdient Erwähnung, daß die Füße der Faulthiere, der vollständigsten Baumthiere der Welt, wunderbar hakenförmig sind.
130 Brehm , Thierleben. 2. Aufl. Bd. I, p. 163.
131The Hand, its Mechanism, etc. »Bridgewater Treatise.« 1863, p. 38.
132 Haeckel erörtert in ausgezeichneter Weise die Schritte, durch welche der Mensch ein Zweifüßer wurde: Natürliche Schöpfungsgeschichte, 1868, p. 507. Dr. Büchner (Vorlesungen über die Darwin'sche Theorie. 1868, p. 195) hat eine Anzahl von Fällen, wo der Fuß vom Menschen als Greiforgan gebraucht wird, gegeben; ebenso über die Bewegungsweise der höheren Affen, welche ich im nächstfolgenden Satze erwähne. Über den letzten Punkt s. auch Owen , Anatomy of Vertebrates. Vol. III, p. 71.
133Prof. Broca , La Constitution des Vertèbres caudales, in: Revue d'Anthropologie: 1872, p. 26 (Separatabdruck).
134»Über die Urform des Schädels« (auch übers, in der Anthropological Review, Oct. 1868, p. 428). Owen (Anatomy of Vertebrates. Vol. II. 1866, p. 551), über den Mastoidfortsatz bei den höheren Affen.
135Die Grenzen der Thierwelt, eine Betrachtung zu Darwin's Lehre. 1868, p. 51.
136 Dujardin , Annal. d. scienc. natur. 3. Sér. Zoolog. Tom. XIV, 1850, p. 203. s. auch Mr. Lowne , Anatomy and Physiology of the Musca vomitoria . 1870, p. 14. Mein Sohn, Mr. F. Darwin , hat mir die Cerebralganglien der Formica rufa präpariert.
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