Von dem Tage an machte der Alm-Öhi, wenn er herunterkam und durchs Dörfli ging, ein böseres Gesicht als je zuvor. Er grüßte keinen Menschen und sah mit seinem Käsereff auf dem Rücken, mit dem ungeheuren Stock in der Hand und den zusammengezogenen dicken Brauen so drohend aus, dass die Frauen zu den kleinen Kindern sagten: "Gib Acht! Geh dem Alm-Öhi aus dem Weg, er könnte dir noch etwas tun!"
Der Alte verkehrte mit keinem Menschen im Dörfli, er ging nur durch und weit ins Tal hinab, wo er seinen Käse verhandelte und seine Vorräte an Brot und Fleisch einnahm. Wenn er so vorbeigegangen war im Dörfli, dann standen hinter ihm die Leute alle in Trüppchen zusammen, und jeder wusste etwas Besonderes, was er am Alm-Öhi gesehen hatte, wie er immer wilder aussehe und dass er jetzt keinem Menschen mehr auch nur einen Gruß abnehme, und alle kamen darin überein, dass es ein großes Glück sei, dass das Kind habe entweichen können, und man habe auch wohl gesehen, wie es fortgedrängt habe, so, als fürchte es, der Alte sei schon hinter ihm drein, um es zurückzuholen. Nur die blinde Großmutter hielt unverrückt zum Alm-Öhi, und wer zu ihr heraufkam, um bei ihr spinnen zu lassen oder das Gesponnene zu holen, dem erzählte sie es immer wieder, wie gut und sorgfältig der Alm-Öhi mit dem Kind gewesen sei und was er an ihr und der Tochter getan habe, wie manchen Nachmittag er an ihrem Häuschen herumgeflickt, das ohne seine Hilfe gewiss schon zusammengefallen wäre. So kamen denn auch diese Berichte ins Dörfli herunter; aber die meisten, die sie vernahmen, sagten dann, die Großmutter sei vielleicht zu alt zum Begreifen, sie werde es wohl nicht recht verstanden haben, sie werde wohl auch nicht mehr gut hören, weil sie nichts mehr sehe.
Der Alm-Öhi zeigte sich jetzt nicht mehr bei den Geißenpeters; es war gut, dass er die Hütte so fest zusammengenagelt hatte, denn sie blieb für lange Zeit ganz unberührt. Jetzt begann die blinde Großmutter ihre Tage wieder mit Seufzen, und nicht einer verstrich, an dem sie nicht klagend sagte: "Ach, mit dem Kind ist alles Gute und alle Freude von uns genommen, und die Tage sind so leer! Wenn ich nur noch einmal das Heidi hören könnte, eh ich sterben muss!"
Ein neues Kapitel und lauter neue Dinge
Inhaltsverzeichnis
Im Hause des Herrn Sesemann in Frankfurt lag das kranke Töchterlein, Klara, in dem bequemen Rollstuhl, in welchem es den ganzen Tag sich aufhielt und von einem Zimmer ins andere gestoßen wurde. Jetzt saß es im so genannten Studierzimmer, das neben der großen Essstube lag und wo vielerlei Gerätschaften herumstanden und—lagen, die das Zimmer wohnlich machten und zeigten, dass man hier gewöhnlich sich aufhielt. An dem großen, schönen Bücherschrank mit den Glastüren konnte man sehen, woher das Zimmer seinen Namen hatte und dass es wohl der Raum war, wo dem lahmen Töchterchen der tägliche Unterricht erteilt wurde.
Klara hatte ein blasses, schmales Gesichtchen, aus dem zwei milde, blaue Augen herausschauten, die in diesem Augenblick auf die große Wanduhr gerichtet waren, die heute besonders langsam zu gehen schien, denn Klara, die sonst kaum ungeduldig wurde, sagte jetzt mit ziemlicher Ungeduld in der Stimme: "Ist es denn immer noch nicht Zeit, Fräulein Rottenmeier?"
Die Letztere saß sehr aufrecht an einem kleinen Arbeitstisch und stickte. Sie hatte eine geheimnisvolle Hülle um sich, einen großen Kragen oder Halbmantel, welcher der Persönlichkeit einen feierlichen Anstrich verlieh, der noch erhöht wurde durch eine Art von hoch gebauter Kuppel, die sie auf dem Kopf trug. Fräulein Rottenmeier war schon seit mehreren Jahren, seitdem die Dame des Hauses gestorben war, im Hause Sesemann, führte die Wirtschaft und hatte die Oberaufsicht über das ganze Dienstpersonal.
Herr Sesemann war meistens auf Reisen, überließ daher dem Fräulein Rottenmeier das ganze Haus, nur mit der Bedingung, dass sein Töchterlein in allem eine Stimme haben solle und nichts gegen dessen Wunsch geschehen dürfe.
Während oben Klara zum zweiten Mal mit Zeichen der Ungeduld Fräulein Rottenmeier befragte, ob die Zeit noch nicht da sei, da die Erwarteten erscheinen konnten, stand unten vor der Haustür die Dete mit Heidi an der Hand und fragte den Kutscher Johann, der eben vom Wagen gestiegen war, ob sie wohl Fräulein Rottenmeier so spät noch stören dürfe.
"Das ist nicht meine Sache", brummte der Kutscher; "klingeln Sie den Sebastian herunter, drinnen im Korridor."
Dete tat, wie ihr geheißen war, und der Bediente des Hauses kam die Treppe herunter mit großen, runden Knöpfen auf seinem Aufwärterrock und fast ebenso großen runden Augen im Kopfe.
"Ich wollte fragen, ob ich um diese Zeit Fräulein Rottenmeier noch stören dürfe", brachte die Dete wieder an.
"Das ist nicht meine Sache", gab der Bediente zurück; "klingeln Sie die Jungfer Tinette herunter an der anderen Klingel", und ohne weitere Auskunft verschwand der Sebastian.
Dete klingelte wieder. Jetzt erschien auf der Treppe die Jungfer Tinette mit einem blendend weißen Deckelchen auf der Mitte des Kopfes und einer spöttischen Miene auf dem Gesicht.
"Was ist?", fragte sie auf der Treppe, ohne herunterzukommen. Dete wiederholte ihr Gesuch. Jungfer Tinette verschwand, kam aber bald wieder und rief von der Treppe herunter: "Sie sind erwartet!"
Jetzt stieg Dete mit Heidi die Treppe hinauf und trat, der Jungfer Tinette folgend, in das Studierzimmer ein. Hier blieb Dete höflich an der Tür stehen, Heidi immer fest an der Hand haltend, denn sie war gar nicht sicher, was dem Kinde etwa begegnen konnte auf diesem so fremden Boden.
Fräulein Rottenmeier erhob sich langsam von ihrem Sitz und kam näher, um die angekommene Gespielin der Tochter des Hauses zu betrachten. Der Anblick schien sie nicht zu befriedigen. Heidi hatte sein einfaches Baumwollröckchen an und sein altes, zerdrücktes Strohhütchen auf dem Kopf. Das Kind guckte sehr harmlos darunter hervor und betrachtete mit unverhehlter Verwunderung den Turmbau auf dem Kopf der Dame.
"Wie heißest du?", fragte Fräulein Rottenmeier, nachdem auch sie einige Minuten lang forschend das Kind angesehen hatte, das kein Auge von ihr verwandte.
"Heidi", antwortete es deutlich und mit klangvoller Stimme.
"Wie? Wie? Das soll doch wohl kein christlicher Name sein? So bist du doch nicht getauft worden. Welchen Namen hast du in der Taufe erhalten?", fragte Fräulein Rottenmeier weiter.
"Das weiß ich jetzt nicht mehr", entgegnete Heidi.
"Ist das eine Antwort!", bemerkte die Dame mit Kopfschütteln. "Jungfer Dete, ist das Kind einfältig oder schnippisch?"
"Mit Erlaubnis und wenn es die Dame gestattet, so will ich gern reden für das Kind, denn es ist sehr unerfahren", sagte die Dete, nachdem sie dem Heidi heimlich einen kleinen Stoß gegeben hatte für die unpassende Antwort. "Es ist aber nicht einfältig und auch nicht schnippisch, davon weiß es gar nichts; es meint alles so, wie es redet. Aber es ist heut zum ersten Mal in einem Herrenhaus und kennt die gute Manier nicht; aber es ist willig und nicht ungelehrig, wenn die Dame wollte gütige Nachsicht haben. Es ist Adelheid getauft worden, wie seine Mutter, meine Schwester selig."
"Nun wohl, dies ist doch ein Name, den man sagen kann", bemerkte Fräulein Rottenmeier. "Aber, Jungfer Dete, ich muss Ihnen doch sagen, dass mir das Kind für sein Alter sonderbar vorkommt. Ich habe Ihnen mitgeteilt, die Gespielin für Fräulein Klara müsste in ihrem Alter sein, um denselben Unterricht mit ihr zu verfolgen und überhaupt ihre Beschäftigungen zu teilen. Fräulein Klara hat das zwölfte Jahr zurückgelegt; wie alt ist das Kind?"
"Mit Erlaubnis der Dame", fing die Dete wieder beredt an, "es war mir eben selber nicht mehr so ganz gegenwärtig, wie alt es sei; es ist wirklich ein wenig jünger, viel trifft es nicht an, ich kann's so ganz genau nicht sagen, es wird so um das zehnte Jahr, oder so noch etwas dazu sein, nehm ich an."
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